Frankfurter Rundschau, 16. Januar 2002

Wolfgang Gehrcke (PDS) antwortet auf die Pazifismus-Thesen des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer (Bündnis 90/Grüne)
        Ein bisschen Krieg

                   Der Rüstungsexport boomt. Aufrüstung und ein bisschen Krieg - das ist, was unter
                   Rot-Grün vom Pazifismus bleibt.

                   Statt geradeheraus zu sagen, der Pazifismus hat ausgedient, wertet Ludger
                   Volmer in der FR vom 7. Januar 2002 den Begriff um und schreibt: "Pazifismus
                   heute kann militärische Gewalt als Ultima Ratio, als letztes Mittel, nicht leugnen . .
                   ." Wenn Pazifismus zu einem bisschen Krieg wird, wenn Begriffe einen anderen bis
                   entgegengesetzten Inhalt bekommen, dann sind Worte zum Notnagel einer Politik
                   geworden, die sich verloren hat.

                   Die Grünen haben ihre Grundwerte so gründlich ramponiert, dass wenigstens die
                   Begriffe gerettet werden müssen, damit ihre Partei nicht unkenntlich wird,
                   überflüssig. Deshalb konstruiert Ludger Volmer, aus Vergangenem dialektisch
                   geschult, einen "neuen politischen Pazifismus", in dem es gelte, "Verantwortung
                   und Risiken mitzutragen". Der dürfe "nicht die Realitäten verdrängen".

                   Schon Bertha von Suttner, Carl von Ossietzky oder Helene Stöcker mussten sich
                   anhören, dass ihre Politik untauglich sei für die Realität, als Idealisten wurden
                   Albert Schweitzer, Albert Einstein, Bertrand Russell, Martin Luther King, Mahatma
                   Gandhi und die ungezählten Pazifistinnen und Pazifisten der vergangenen 100
                   Jahre abgestempelt. In dieser Hinsicht sagt Ludger Volmer nichts Neues.

                   Er kommt sogar der These von Heiner Geißler bedenklich nah, der auf dem
                   Höhepunkt der Bewegung gegen den Nato-Doppelbeschluss behauptete, der
                   Pazifismus habe Auschwitz erst möglich gemacht, weil er die
                   Verteidigungsbereitschaft der westlichen Demokratien gegenüber Hitler
                   geschwächt habe. Der CDU-Politiker Geißler wollte damals die Friedensbewegung
                   insgesamt diffamieren; er erntete übrigens heftigsten Widerspruch.

                   Anders der Grünen-Politiker Volmer heute. Er will die Traditionen der
                   Friedensbewegung für die Politik der Bundesregierung vereinnahmen. In seiner
                   Argumentation wird der Jugoslawien-Krieg zur Konsequenz aus "Nie wieder
                   Auschwitz, nie wieder Krieg".

                   Dem "neuen politischen Pazifismus", dem Pazifismus mit ein bisschen Krieg,
                   entspricht der "humanitäre Krieg", auch so eine Erfindung der rot-grünen
                   Bundesregierung.

                   Im "humanitären Krieg" ist der Feind nicht ein anderes Volk, sondern einzelne
                   Machthaber, Milosevic, die Taliban, bin Laden . . .

                   Im "humanitären Krieg" geht es angeblich nicht um Macht, Einflusssphären,
                   Reichtum oder Rohstoffe, sondern um - Menschlichkeit. Das war der Fall in
                   Kosovo, als deutsche Soldaten für Auschwitz sühnten, das ist so in Afghanistan,
                   wo sich, laut Bundesregierung, "Bündnistreue", "Bündnisfähigkeit" und
                   "uneingeschränkte Solidarität" zu erweisen haben.

                   Seitens Rot-Grün erhält jede neuere deutsche Kriegsbeteiligung die höhere Weihe
                   eines Handelns bar jeglichen Eigeninteresses, Militäreinsätze sind altruistisch. So
                   hat die jetzige Bundesregierung Kriege wieder führbar gemacht. Die Konservativen
                   hätten damit mehr Schwierigkeiten gehabt, ihnen mangelt es an Glaubwürdigkeit
                   auf dem Gebiet der Menschenrechte, und Kriege als Fortsetzung der
                   Friedensbewegung mit anderen Mitteln hätte den erklärten Gegnern des
                   Pazifismus ohnehin keiner abgenommen.

                   Unter Rot-Grün hingegen wird deutsche Kriegsbeteiligung zu einer Sache der
                   Moral, und über Interessen wird nicht mehr geredet. Das entmündigt den Bürger,
                   das schadet der Demokratie. Sie wird zur "wehrhaften Demokratie", die dem
                   Bürger misstraut, die den Souverän zum verdächtigen Subjekt macht.

                   Einst war die "wehrhafte Demokratie" die konservative Alternative zu Willy Brandts
                   "mehr Demokratie wagen". Bis der damalige Kanzler dem Zwischenrufer Rainer
                   Barzel in einer Bundestagsdebatte entgegnete: "Sie brauchen uns nicht zum Jagen
                   zu tragen" - und die Berufsverbote initiierte. Heute hat die "wehrhafte Demokratie"
                   erneut das Schicksal der freundlichen Übernahme durch Rot-Grün ereilt, die
                   Konservativen sind dabei, die Plätze weiter rechts zu besetzen. Die Mitte der
                   Gesellschaft gerät aus dem Lot. Auch das ist Folge deutscher Kriegsbeteiligung.

                   Unter realistischer Außenpolitik versteht Rot-Grün etwas, was sich auf eigene
                   Machtambitionen gründet, Bündnisverpflichtungen berücksichtigt oder
                   Koalitionszwängen unterliegt. Das greift aber viel zu kurz. Außenpolitik muss vom
                   Zustand der Welt ausgehen. Darin liegt ihre Radikalität, Realität ohnehin.

                   Die Büchse der Pandora ist weit offen nach Ende der Blockkonfrontation. Der
                   Nord-Süd-Konflikt ist ungelöst, die Kluft zwischen Arm und Reich tief.
                   Massenvernichtungswaffen bedrohen den Globus, Bürgerkriege, Zerfall von Staaten
                   und Staatlichkeit, ökologische Zeitbomben, Seuchen, Hunger, Armut.
                   Interessenkonflikte entzünden sich an den Fragen, wer die endlichen
                   Naturressourcen nutzen kann, wer das Wasser, die weltweite Kommunikation, wer
                   Zugang zum Welthandel hat. Der globale Terror ist hinzugekommen, seine
                   Netzwerke sind älter.

                   Diese Probleme hat der Neoliberalismus, der beansprucht, die moderne Antwort
                   auf den Sozialismus zu sein, nicht gelöst, sondern verschärft. Interessanterweise
                   gab es in Europa in den 90er Jahren andere politische Antworten. Sie gingen in
                   Richtung von mehr Sozialstaatlichkeit, eine mehr auf Ausgleich bedachte
                   Verteilung von Reichtung und Macht, Auflösung der Militärblöcke, Abrüstung statt
                   Umrüstung.

                   Doch Europa ist dabei, seinen eigenen Weg zu verlassen, der den Frieden sicherer
                   gemacht und die Welt stabilisiert hätten. Die Auseinandersetzung um konkrete,
                   realistische Alternativen spart Ludger Volmer aus und vertritt stattdessen mit
                   Joseph Fischer, moderne Außenpolitik sei Weltinnenpolitik.

                   Für eine Weltinnenpolitik scheint zu sprechen, dass in weiten Teilen ein
                   Machtvakuum entsteht, weil die klassischen Ordnungsmächte, die Staaten,
                   zerfallen oder staatliche Macht erodiert. Das ist der Fall in Afrika, Asien,
                   Lateinamerika, im Nahen und Mittleren Osten. Viele dieser Staaten waren
                   willkürliche Produkte der Kolonialmächte. Weitere Zonen hoher Unsicherheit hat
                   der Zusammenbruch des Ostblocks hinterlassen, so auf dem Balkan, in der
                   kaukasisch-kaspischen Region, in Zentralsien. Die Auflösung von Staatlichkeit bei
                   geringer Bindewirkung internationaler Kooperation setzt zusätzliche
                   Gefährungspotenziale frei.

                   Die fängt die vermeintliche Weltinnenpolitik nicht auf; im Gegenteil. Sie spielt mit
                   der Souveränität von Staaten, täuscht weltweite gemeinsame Rechts- und
                   Wertevorstellungen vor. Statt internationale Arbeitsteilung und Kooperation zu
                   fördern, fördert sie den Anspruch auf weltweite Intervention und verwischt dabei die
                   Grenzen zwischen Militäraktionen und Polizeieinsätzen.

                   Fischer und Volmer müssen sich fragen lassen, wo und wie sie eine Weltregierung
                   ansiedeln und wer sie demokratisch legitimiert hat. Die Faktische Weltregierung
                   von heute sind nicht die UN, sondern die G 8, der durch nichts anderes als durch
                   wirtschaftliche Macht legitimierte Zusammenschluß der großen Industrienationen.
                   In dieser Champions-League der Welt will Deutschland als relativ kleine Macht
                   ganz groß sein. Ist das das Ziel rot-grüner Weltinnenpolitik? Sicherer könnte die
                   Welt werden durch Stärkung und Reform der Vereinten Nationen, durch
                   Internationalismus statt Interventionismus.

                   Faktoren der Stabilisierung könnten regionale Ordnungsmächte und -pakte sein wie
                   die OSZE, EU, die Organisationen Amerikanischer und Afrikanischer Staaten, der
                   Asean-Pakt.

                   Über eine Voraussetzung einer solchen Politik muss man sich völlig im Klaren
                   sein: Sie braucht die Bereitschaft abzugeben, zu teilen, auf Machtzuwachs zu
                   verzichten. Sie braucht eine Glaubwürdigkeit. Die fehlt Rot-Grün. Ein Beispiel:
                   Deutschland traut seinem Nato-Partner Türkei so wenig, dass es nicht bereit ist,
                   ihm voraussetzungslos Waffen zu verkaufen. Zu Recht. Gleichzeitig ist die
                   Regierung bereit, deutsche Soldaten der Schutztruppe für Afghanistan unter
                   türkisches Kommando zu stellen. Ein anderes Beispiel: Warum muss Deutschland
                   gerade heute einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat beanspruchen, wo doch
                   Europa deutlich über-, Afrika, Lateinamerika und Asien hingegen unterrepräsentiert
                   sind? Und mehr: Warum darf Russland nicht weiter wegen Tschetschenien kritisiert
                   werden, wie es Ludger Volmer meint? Wann wird endlich Abschied davon
                   genommen, dass ein Feind meines Feindes mein Verbündeter zu sein hat? Alle
                   Gewächse des modernen Terrorismus waren Verbündete der USA. Die
                   Anti-Terror-Koalition hat für kurze Zeit Feuer und Wasser zusammengebracht. Eine
                   tragfähige Perspektive für internationale Sicherheit ist sie nicht.

                   Die Anti-Terror-Koalition ist kein Ausdruck für einen Multilateralismus der USA. Die
                   Weltmacht Nummer eins entscheidet allein und entsprechend ihrer Interessen. Die
                   uneingeschränkt solidarische Bundesregierung, noch nicht einmal die Nato, hat
                   keinen Einfluss auf die Kriegsführung, Kriegsziele, auf die eingesetzten Waffen. Ob
                   nach Afghanistan Somalia oder Irak dran sind, welche Rolle dort deutsche
                   Soldaten spielen werden - all das liegt allein in den Händen Washingtons.

                   Die UN werden dann und insofern billigend in Kauf genommen, wenn sie
                   beschließen, was man erwartet. Sie werden in die Rolle gebracht, die Scherben
                   zusammenzufegen, die andere zerbrochen haben.

                   An diesen Wirkungen ist die neue deutsche Außenpolitik beteiligt. Die Gründe
                   dafür nannte Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung vom 11. Oktober
                   2001, als er ausdrücklich betonte, die Etappe deutscher Nachkriegsgeschichte, als
                   man von Deutschland in Kriegen nur "sekundäre Hilfsleistungen" erwartete, also
                   Geld und Infrastruktur, sei "unwiderruflich vorbei". Jetzt hätten die Deutschen die
                   Pflicht, sich direkt an militärischen Aktionen zu beteiligen. Wer, wie der Kanzler
                   oder Ludger Volmer, meint, um seiner Großmachtrolle willen auch Krieg führen zu
                   müssen, kann dies derzeit nur an der Seite der USA. Dabei wird die gemeinsame
                   europäische Außen- und Sicherheitspolitik gefährdet.

                   Wenn in Europa die Großen gleicher sein wollen als die Kleinen, hat die
                   Gemeinschaft schon verloren. Dieser Drang, bei den Großen am Tisch zu sitzen,
                   hat auch etwas Tragisches. Deutschland ist immer zu spät gekommen.
                   Wenigstens dieses Mal soll es von Anfang an die neue Weltordnung mitbauen. Die
                   Angst vor dem Zuspätkommen verhindert, dass Deutschland eine andere große
                   Rolle spielt: die des ehrlichen Maklers.

                   Als ehrlicher Makler könnte der Pazifismus wieder eigene Gestaltungsräume füllen.
                   Darum bemühen wir Sozialisten uns.

                   Wir haben Strategien neu bestimmt. Wir wollen soziale Differenzen nicht mehr
                   zuspitzen, sondern ausgleichen. Unser Ziel ist nicht mehr die Instabilität, sondern
                   Stabilität für ökologische, ökonomische und soziale Reformen. Dafür stellt nicht der
                   Staat ein Hindernis dar, Rechtsstaatlichkeit wird vielmehr zur Voraussetzung für
                   internationale Kooperation, für regionale Sicherheit und Abrüstung. Sozialisten
                   engagieren sich für Armutsbekämpfung, ökologischen Umbau, ökonomische
                   Umverteilung, gewaltfreien Interessenausgleich, Stärkung des internationalen
                   Rechts. Krieg gehört für uns nicht zu den Mitteln der Politik.

                   Die Grüne Antwort ist anders. Sie heißt: Ein bisschen Krieg - kein bisschen
                   Pazifismus.



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