Frankfurter Rundschau, 16. Januar 2002

Reinhard J. Voß, Generalsekretär von Pax Christi in Deutschland
Zerfleddern um der Macht und des Opportunismus willen

Wo bleibt die energische und glaubwürdige Förderung ziviler Konfliktbewältigung? 


                   Pazifismus könne militärische Gewalt als letztes Mittel der Politik nicht
                   leugnen, schrieb Ludger Volmer, Mitglied der Grünen und Staatsminister
                   im Auswärtigen Amt, in der FR vom 7. Januar. Deutschland bleibe nichts
                   anderes übrig, als den international erwarteten eigenen militärischen
                   Beitrag zur Lösung regionaler und globaler Konflikte zu entrichten. Diese
                   Position hat Widerspruch provoziert: Wir dokumentieren Entgegnungen von
                   Wolfgang Gehrcke, dem außenpolitischen Sprecher der
                   PDS-Bundestagsfraktion, und von Reinhard J. Voß, Generalsekretär der
                   deutschen Sektion der katholischen Friedensbewegung Pax Christi.

                   Wann, wenn nicht jetzt, ist Pazifismus gefragt.

                   I. Sich wehren gegen Vereinnahmung

                   Die Denkfigur, dem gesinnungsethischen einen politischen Pazifismus an die Seite
                   zu stellen, stammt gar nicht von Staatsminister Volmer, sondern ist in den letzten
                   Jahren schon unter Pazifisten diskutiert worden. Da wurde auf Grund der
                   Wiederaufbau-Erfahrungen in Bosnien gesagt (Christof Ziemer, Sarajevo 1999), der
                   konsequente "prophetische Pazifismus" brauche neben sich einen "weisheitlichen
                   Pazifismus", welcher davon ausgehe, dass "wir gegenwärtig hier in Bosnien das
                   Militär brauchen", der sich aber seinerseits politisch einmische, denn "das
                   Militärische muss durch gewaltfreie Methoden erweitert werden". Ich sprach
                   damals lieber von "prophetisch-religiösem" und "politischem Pazifismus". Letzterer
                   engagiert sich etwa durch zivile Konfliktbearbeitung, zivile Friedensdienste,
                   Trauma- und Versöhnungsarbeit im Umfeld politisch-militärischer Konflikte - in der
                   Prävention, im Konflikt selbst und in Nachsorge und Wiederaufbau.

                   In der Nachkriegszeit scheut er nicht den Kontakt zu den Militärs, achtet aber
                   darauf, sich nicht ideologisch, publizistisch, logistisch und praktisch von diesen
                   vereinnahmen und in deren Macht- und Militärlogik einbinden zu lassen. Gerade um
                   dieser Gefahr zu begegnen, braucht er den steten Halt und Einspruch des
                   religiös-prophetischen Pazifismus, den Volmer als fundamentalistisch,
                   "akstrakt-gesinnungsethisch" und "handlungsunfähig" abtut. Diese aus rot-grünen
                   Regierungskreisen versuchte völlige Aburteilung des prophetischen und vollständige
                   Vereinnahmung des politischen Pazifismus ist unannehmbar. Pazifismus ist
                   grundsätzlicher christlich, religiös oder humanistisch verortet, als dass er in der
                   Volmer'schen macht-opportunistischen Art definitorisch zerfleddert oder relativiert
                   werden könnte. Mag er die von ihm vertretene Politik friedenssichernd und -fördernd
                   nennen, aber das Recht, sie pazifistisch zu taufen, muss ihm abgesprochen
                   werden. Pazifismus und Antimilitarismus gehören heute zusammen.

                   II. Als Pazifisten die neuen Herausforderungen ernst nehmen

                   Der evangelische Sozialethiker Wolfgang Lienemann hat schon 1993 zum Schutz
                   vor "Gewalt, Not und Unfreiheit" für eine "UN-Streitmacht zur Durchsetzung des
                   Völkerrechts" bei gleichzeitiger Abrüstung der nationalen Armeen plädiert: "In
                   dieser Ordnung wären Soldaten ihrer Funktion nach von Polizisten nicht mehr zu
                   unterscheiden. Ich denke, ihre Legitimität würden auch Pazifisten anerkennen
                   können." Dies kann ich, wenn "Militär" und damit die Institution des Krieges als
                   politisches Mittel von nationalstaatlicher und auch blockbezogener Machtpolitik
                   wirklich aufgegeben wird. Wenn Erhard Eppler angesichts neuer Formen
                   "privatisierter Gewalt" im Prozess der Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols
                   oder überhaupt staatlicher Strukturen, sagt: "Der Pazifismus ist nicht tot, aber er
                   muss sich wandeln. Er muss zum Partner des Militärs werden" - so kann ich dem
                   so nicht zustimmen. Ich habe zwar erlebt, wie auf dem Balkan die Zusammenarbeit
                   problemlos im Bereich praktischer Hilfe lief, aber da handelte es sich faktisch nicht
                   mehr um Militär, sondern seiner Funktion nach um Polizei und technische
                   Hilfskräfte.

                   Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie unerklärte "gerecht(fertigt)e" Kriege
                   für die Menschenrechte geführt wurden, beschönigend "humanitäre Interventionen"
                   genannt. Der berechtigte Kampf gegen den "Terrorismus" - der noch allzu vage
                   definiert ist - darf künftig nicht weiter vermischt werden mit Kriegspolitik, die
                   ihrerseits wiederum machtpolitische Ziele hat. Daher ist dieser Kampf auch nur und
                   ausschließlich im Rahmen der UN legitimier- und führbar. Die Nato oder gar ein
                   oder mehrere hoch gerüstete Länder sind ungeeignet dazu und bauen neue,
                   weltweite Spannungen auf.

                   Gerade weil Krieg heute anders aussieht als früher und es keine klaren Fronten
                   mehr gibt, wenn der Krieg zumindest auf der einen Seite quasi privatisiert wird und
                   er sich nicht mehr auf ein klar definiertes Schlachtfeld begrenzen lässt, ist die
                   pazifistische Forderung von der "Abschaffung des Krieges als Institution" aktueller
                   denn je. Traditionelle Muster der Kriegsführung, auf die jetzt die Staaten wieder
                   verfallen, sind nicht mehr sinnvoll, ja gefährden den Weltfrieden mehr als alle
                   Terroranschläge. Man greift Staaten an, statt Banden und internationale Netzwerke
                   zu verfolgen. Dazu müssen juristische, polizeiliche und diplomatische neue Mittel
                   auf Weltebene - im Rahmen einer reformierten UN - entwickelt und angewandt
                   werden, die der Faktizität sich entwickelnder Weltinnenpolitik gerecht werden und
                   diese weiter befördern. Macht darf nicht länger Recht beugen, sondern muss sich
                   im Namen und Rahmen des Völkerrechts artikulieren, bewähren und begrenzen
                   lassen. "Nation-building" kann durch vorherige Bomben-Zerstörung ganzer
                   Landstriche und Länder nicht gerechtfertigt, sondern muss von unten aufgebaut
                   werden. Ein politischer Pazifismus, der Terrorakte und Rechtsbrüche mit
                   rechtlichen und polizeilichen Mitteln zu ahnden vorschlägt, ist höchst konstruktiv
                   und realistisch - dazu sind im Rahmen der UN in den letzten zehn Jahren enorme
                   Fortschritte erzielt worden. Allen Staaten und besonders den USA stünde es gut
                   an, die vielen entwickelten Vorschläge jetzt zu ratifizieren und sich vom
                   Unilateralismus der Macht zu verabschieden: vom Klimaprotokoll über die
                   Biowaffenkontrolle bis zum Internationalen Strafgerichtshof.

                   Dies geschähe zum Schutz der "Interessen der USA" wie sie die Studie "Global
                   Future" für Präsident Carter (1980) unter eben dieser Überschrift formulierte: "Der
                   Zusammenhang zwischen der nationalen Sicherheit der USA und den globalen
                   Problemen der Ressourcen, der Bevölkerung und der Umwelt betrifft vor allem die
                   politische Stabilität. Eine abwärts gerichtete Spirale von Armut und
                   Ressourcenverminderung und wachsende Unterschiede zwischen Reichen und
                   Armen könnten das Potential an Enttäuschung und Zorn derer, die bei der
                   Aufteilung des Wohlstandes benachteiligt sind, vergrößern und sie empfänglicher
                   für Ausbeutung durch andere und für die Anwendung von Gewalt machen."

                   So ist denn unsere Regierung zu fragen: Wo bleibt die wirklich "energische"
                   Förderung ziviler Konfliktbearbeitung und ziviler Friedensdienste, wo die Umrüstung
                   der Bundeswehr statt zu einer Interventionsarmee zu UN-Polizeikräften und der
                   Aufbau einer Blauhelmausbildung? Wo bleibt eine konsequente
                   Menschenrechtspolitik beispielsweise in der Türkei (Kurdistankonferenz), in der
                   Demokratischen Republik Kongo oder in Kolumbien?

                   Wo bleibt eine glaubwürdige und dringliche Initiative der EU für ein Zusammenleben
                   von Israel und Palästina? Wo bleibt der konsequente Rückbau der
                   Rüstungsexporte und die Verdoppelung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des
                   Bruttosozialprodukts?

III. Alternativen aufzeigen, die wir als christlich motivierte Pazifisten politisch wichtig finden

                   Ich nenne fünf Leitbilder:

                   1.das Leitbild des gewaltfreien Jesus, die Vision der "Pax Christi", des
                   jesuanischen Friedensstiftens durch radikales Verstehen und manchmal auch
                   Provozieren des "Gegners". Das derzeit oft abschätzig zitierte Hinhalten der
                   "anderen Wange" (Mt. 5,39) deuten wir neu: "Die Person, die die andere Backe
                   hinhält, sagt damit: Versuch es noch einmal! Dein erster Schlag hat sein
                   eigentliches Ziel verfehlt. Ich verweigere dir das Recht, mich zu demütigen." (W.
                   Wink) Solch gewaltfreier Widerstand ist nicht passiv, sondern eine sehr aktive,
                   erlernbare, und sogar taktisch und strategisch einsetzbare Haltung und Handlung.
                   Sie setzt aber eine spirituelle Vertiefung voraus, eine ständige innere Wachheit.

                   2.das Leitbild des "gerechten Friedens", das sich der grundsätzlichen "vorrangigen
                   Option für Gewaltfreiheit" der Ökumenischen Versammlungen der Kirchen in der
                   DDR (1987/88) verdankt, basierend auf der tiefen Einsicht, dass Gewalt allzu leicht
                   nur Gewalt gebiert und in Form einer Spirale sehr schnell politisch unkontrollierbar
                   wird. Die christlichen Kirchen unseres Landes stützen jetzt dieses Leitbild, ohne
                   sich schon alle pazifistisch zu nennen. Sie lehnen erstmals seit Jahrhunderten den
                   "gerechten Krieg" in jeder Form ab und sehen auch die in allerschwersten Fällen
                   zugestandene Anwendung von Gewalt als "Ultima Ratio" nur noch als "Übel". Alle
                   Kriege der letzten Jahre für die Menschenrechte halten m. E. diesen Kriterien des
                   gerechten Friedens nicht stand.

                   3.das Leitbild der zivilen Konfliktbearbeitung, des zivilen Friedensdienstes und des
                   "Schalomdiakonats". Pazifisten entwickelten dazu eine Vielfalt gewaltfreier
                   Aktionsformen von der Sozialen Verteidigung und der Mediation bis zu
                   internationalen Missionen in präventiver und auch konfliktvermittelnder Absicht. Der
                   amerikanische Ex-Präsident hat mit seinem "Carter-Institute" Vorbildliches in
                   dieser Hinsicht geleistet.

                   In der Tat haben wir in diesem Bereich in den letzten Jahren politisch relativ gut
                   kooperiert beim Aufbau eines Zivilen Friedensdienstes, der Alphabetisierung in
                   gewaltfreier Konfliktbearbeitung und besserer Vorbereitung zivilen Personals von
                   OSZE- und UN-Missionen.

                   4.das Leitbild einer Kultur des Friedens und der Toleranz, ein dialogischpolitischer
                   Ansatz der Anerkennung unterschiedlicher Interessen und Positionen jenseits
                   eines simplen Gut-Böse-Schemas. Dieses Leitbild verweist auch auf die eigenen
                   negativen Anteile und wird dadurch konsens-, kompromiss- und versöhnungsfähig.
                   2001 bis 2010 haben die Kirchen eine "Dekade zur Überwindung von Gewalt" und
                   die UN eine solche für eine "Kultur des Friedens" ausgerufen! Auch Initiativen wie
                   "Weltethos" und "Erdcharta" dienen diesem Ziel; interreligiöser und interkultureller
                   Dialog sind Wege dahin.

                   5.das Leitbild des Völkerrechts im Sinne von Kants "Ewigem Frieden", nämlich
                   einen weltweit koordinierten und kodifizierten juristischen Weg der Gewaltkontrolle
                   durch Entwicklung weiterer UN-Instrumente zur Bekämpfung und Bestrafung
                   internationaler Gewalttäter. Der nächste Schritt dazu ist nun die rasche
                   Ratifizierung des in Rom 1998 beschlossenen Internationalen Strafgerichtshofes -
                   ein Begriff, den man in Volmers Beitrag übrigens vergeblich sucht. 



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