Frankfurter Rundschau, 24. Januar 2002

Wolf-Dieter Narr Professor für Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin.
Absacken der Politik ins gewalttätig Bodenlose

Eine fundamentale Abrechnung

 

                   I.Pazifismus als menschenrechtlicher Realismus

                   Leuten, die sich pazifistisch orientieren, demgemäß urteilen und handeln, geht es
                   gewöhnlich dem Büchner'schen Woyzeck gleich. Diesen charakterisiert sein
                   vorgesetzter Hauptmann. Er sei ein "guter Mensch", indes "ganz abscheulich
                   dumm". Pazifisten sind, im Vokabular "realpolitisch" gescheiter, also am
                   Hauptmann orientierter Intellektueller gesprochen, "Gutmenschen" ohne
                   Wirklichkeitssinn.

                   Ludger Volmer wertet sachter, im Ergebnis ähnlich desaströs ab. Ihm scheinen die
                   Pazifisten, die er in einer blumigen Variantenfülle präsentiert, dort jedenfalls, wo sie
                   Krieg in jeder Form ablehnen - was doch wohl erst die Bezeichnung "pazifistisch"
                   verdient -, blind für die gegenwärtig gestellten Probleme. Dass man stattdessen
                   pazifistische Moral mit kriegerischem Handeln in nicht weiter bestimmten Notfällen
                   vereinbaren könne, ist des Herrn Staatsministers großes, perverse Sachverhalte
                   harmonisierendes Ziel.

                   Im Gegensatz zu Volmer jedoch, der die heute - und gestern schon und morgen
                   noch mehr - gestellten Probleme über die neue mythische Chiffre "11. September"
                   hinaus nicht einmal antupft, behaupte ich, dass unter menschenrechtlich seriöser
                   Perspektive allein eine Politik den Problemen unserer Zeit verantwortlich entspricht,
                   die das Mittel kollektiver Gewalt, also des Kriegs in diversen Lesarten, nicht
                   benutzt. Ich greife einige der miteinander gekoppelten Probleme pointiert heraus.

                   Das überragende Problem stellt der weltweit wild und hemmungslos gewordene
                   Kapitalismus dar. Dieser bewirkt zusammen mit der ihm eng verbundenen
                   wissenschaftlich technologischen Entwicklung den sich dynamisch fortsetzenden
                   Zustand der Globalisierung. Getrieben von Millionen und Abermillionen von
                   Interessen hat der seit Jahrhunderten zuerst im Westen und Norden, dann ost- und
                   südwärts expandierende, unersättlich wachsende Kapitalismus einen unerhörten
                   Boom von Produktivität und Produkten entfesselt. Das Stichwort unserer Zeit lautet
                   nicht zufällig: Innovation. Zugleich bedeutet diese entfesselte Logik der weiteren
                   Entfesselung jedoch einen gleichfalls unerhörten Raubbau an natürlichen
                   Umständen, vor allem jedoch die Vernutzung und Zerstörung ("Dissoziation")
                   sozialer Institutionen und Verhaltensweisen. Nicht nur Pflanzen- und Tierarten,
                   "Menschentypen", um einen Begriff Max Webers in seinem Sinne aufzugreifen,
                   werden marginalisiert und in ihren Lebensbedingungen zerstört wie quer zur
                   Geschichte der moderne Indianer und vormoderne Stammeskulturen samt ihren
                   Angehörigen.

                   Bis heute werden zur Durchsetzung all dessen, was allzu unqualifiziert
                   euphemistisch "Modernisierung" oder "Transformation" oder eben Kapitalismus
                   und, als ob harmonisch vereint, liberale Demokratie genannt wird, eine Fülle mehr
                   oder minder sublimer Gewaltmittel eingesetzt. Notfalls Kriege. Heute ist jeder
                   aufmerksam sensiblen Beobachterin das Menetekel erkenntlich: Der Menschheit,
                   die weltweit den Menschenrechten gemäß leben könnte - das ist das große
                   Versprechen europäisch-angelsächsischer Aufklärung -, schwindet,
                   neutechnologisch vollends ausgehöhlt, die nötigen sozioökonomischen und
                   politischen Bedingungen. Vielmehr: Diese werden nie geschaffen. "Der flexible
                   Mensch" (Richard Sennett), möglicherweise entsprechend humangenetisch
                   befähigt, ist Trumpf. Rundum einsatz- und anpassungsfähig, mit
                   vernachlässigbaren, notfalls sicherheitspolitisch zu kasernierenden
                   kognitiv-psychischen "Innereien".

                   Der globale Kapitalismus gründet nicht nur auf innergesellschaftlicher und
                   zwischengesellschaftlicher Ungleichheit. Sein konkurrierendes, arbeitsteilig
                   produzierendes und konsumierendes, sein auf dem Wachstum von
                   Profit-Reichtum-Macht ausgerichtetes "Wesen" produziert neue, auf der
                   vorhandenen in der Regel aufgesetzte soziale Ungleichheit fort und fort.
                   Ungleichheit, massenhafte Unterversorgungen aller Art - von der Ernährung über die
                   Gesundheit bis zur Bildung und Beteiligung -, verstößt nicht allein systematisch
                   wider die Menschenrechte, die mehr sind als bürgerlich privilegierte Farbtupfer.
                   Ungleichheit staut Aggressionen. Sie bildet Reservoirs aller Arten von Gewalt. Wer
                   immer, herrschaftsinteressiert, dieses Reservoir für sich nutzen mag.

                   Damit jedoch nicht genug der im weltweiten Wirkungszusammenhang nicht zuletzt
                   (neo-)liberal vom siegreichen "Westen" her historisch und gegenwärtig gebildeten
                   Probleme. Wenigstens ein zentrales Problem ist noch zu erwähnen. Der Mangel
                   angemessener soziopolitischer Organisationen.

                   Obwohl die kapitalistische Vergesellschaftung - bald mit der politisch staatlichen
                   verbunden - sich im Westen über Jahrhunderte entwickelt hat und die neuere
                   Globalisierung lange erkenntlich gewesen ist, haben es selbst die europäisch
                   angelsächsischen Gesellschaften versäumt, problemangemessene, allein den
                   quantitativen Dimensionen gewachsene Institutionen und Prozeduren
                   ("Organisationsformen") zu erfinden, die sie nicht zu abhängigen Größen der
                   dominanten kapitalistischen Vergesellschaftungsform als spezifischem
                   Entgesellschaftungsprozess machen.

                   Bis heute tut die bei weitem überwiegende, in diesem Sinne liberale Mehrheit so,
                   als reiche "Marktvertrauen" prinzipiell aus. Als müssten dazu hin nur ein wenig
                   Rechtsgarantie aller (ökonomischen) Verträge und durch das staatliche
                   Gewaltmonopol zu gewährleistende Sicherheit der gegebenen und konkurrierend
                   wachsenden Privilegienordnung hinzukommen. Dann werde alles inmitten einer
                   grenzenlosen kapitalistischen Welt eitel Wonne.

                   Diese kapitalistisch quietistischen Annahmen sind im Kern unrichtig. Das belegen
                   nicht nur die ungeheuren Kosten inmitten der durchkapitalisierten Welt und mehr
                   noch der Welt, die gegenwärtig bis hin zu den Ländern Zentralasiens, angefangen
                   mit Afghanistan, durchkapitalisiert wird. Das belegt auch das lemminghaft
                   unverantwortliche Verhalten der scheinmächtigen global players und der
                   scheinmachtvollen Staatsleute.

                   Das ist die Oberfläche einiger Hauptprobleme. Von diesen Problemen hat Volmer
                   nicht gesprochen. Sein analytischer Spaten blieb im Kellerraum des Außenamts.
                   Niemand, der einigermaßen durchblickt, vermag eindeutige oder gar auf Dauer
                   angelegte "Lösungen" vorzuschlagen. Die zweiteilenden Etiketten "böse" oder
                   "gut", fast immer herrschaftlich verblödende Kennzeichnungen, helfen am
                   wenigsten. Auch und gerade angesichts des innig ambivalenten globalen
                   Kapitalismus nicht.

                   Nur dreierlei ist eindeutig und klar:

                   (a) So wie die westlichen Staatsleute den 11. September 2001 interpretieren,
                   demonstriert dies nur, dass sie die terroristisch zum Ausdruck gekommenen
                   Probleme nicht begriffen haben, nicht begreifen wollen. Angetan mit ihren alten,
                   privilegierten Interessenspelzen betreiben sie vielmehr herrschaftlich routinisierte
                   und das heißt selbstredend in Gewalt, Öl, Gas und Drogen ersäufte Pseudopolitik.
                   Sie suchen nun, vom weltpolitischen Gernegroß Schröder besonders auffällig
                   repräsentiert, die ganze Welt noch stärker militärisch, westlich privilegierten
                   Interessen gemäß, zu besetzen und zu durchdringen. Als ob damit die ohnehin
                   schon lange überbordende Gewalt nicht weiter überbordete, dann auch den Westen
                   nicht mehr schützend. Wenn nicht heute, dann morgen.

                   (b) Die extrem verkürzt angeritzten Probleme lassen sich in keinem Fall mit Gewalt
                   lösen. Gewalt, auch solche überlegene und damit fürs erste fast risikolose Gewalt,
                   wie sie westlich, US-geführt zu militärisch-tödlichem Gebote steht, ist nichts
                   anderes als kontraproduktiv. "Nicht nur" kommen Menschen um - ein "nicht nur",
                   das menschenrechtlich nicht gilt, es sei denn man funktionalisiere
                   Menschenrechte nach eigenem Interessensgout; werden Lebensmöglichkeiten von
                   Menschen zerstört; wird in Gewalt "sozialisiert"; und werden Aggressionen
                   habitualisiert. Vielmehr verdummt, menschenrechtlich demokratisch qualifiziert, die
                   Politik der militärisch (und kapitalistisch) Gewaltigen. Sie verlangt dauernde
                   Hochrüstung. Und sie produziert nachahmende Hochrüstung weltweit. Sicherheit
                   wächst nicht; sie sackt ins gewalttätig Bodenlose.

                   (c) Die Konzentration auf militärische Gewalt fordert enorme Opfer auch in
                   westlichen Gesellschaften, auch in Nicht-Kriegszeiten. Demokratisierung, Grund-
                   und Menschenrechte werden durch "Sicherheitspakete" abgebaut.

                   II.Volmers Problem- und Normvernebelung

                   Ludger Volmer will sich und andere weiter als Pazifisten bezeichnen können.
                   Darum tut er ein Doppeltes: Er bestimmt mit Zusatz "politisch" das um, was
                   Pazifismus heißen muss, wie unterschiedlich man ihn im Einzelnen begründen
                   mag. Dass Krieg kein Mittel der Politik ist, weil Politik im Krieg aufhört. Schon im
                   Prozess des dauernden Hochrüstens wird Politik zur Fortsetzung des Krieges mit
                   anderen Mitteln. Das zum einen. Zum anderen unterstellt er, dass Pazifismus
                   heute, also eine Politik, die nicht mit kollektiver Gewalt im Hinter- und eventuell im
                   Vordergrund arbeitet, sich gegenwärtigen Probleme nicht stelle. Genau umgekehrt
                   verhält es sich (siehe oben). Verantwortungsethisch, so man Max Webers viel
                   missbrauchte Unterscheidung erneut aufnehmen will, verantwortungsethisch, sage
                   ich geradezu apodiktisch, sprich: Die Folgen für die Menschen und für das
                   zukünftige Leben der nach uns kommenden Menschen bedenkend verhält sich
                   heute politisch nur die- oder derjenige, die praktizierend wissen, dass das Mittel
                   kollektiver Gewalt nur negative Effekte erzeugt. Allenfalls kurzschlüssig mag das
                   militärisch anscheinshaft erzeugte "Ende des Schreckens" dem moralischen
                   Ruhebedürfnis entsprechen.

                   III. Was heißt politisch wirksam?

                   Pazifistischer Protest bleibe folgenlos, so drängt Volmer. Nur ein militärisch
                   ergänzter Bellipazifismus sei realpolitisch. Das zuletzt Gesagte mag angesichts
                   der bestehenden Herrschaftsstrukturen zutreffen. Realpolitik bedeutet in
                   antimenschenrechtlicher deutscher Tradition, Politik kurzsichtig "mit Blut und
                   Eisen" zu betreiben oder zu unterstützen, wenn's den eigenen Macht- und
                   Wohlstandsinteressen dient. Darum führt der "lange Weg nach Westen" zu
                   unkritischer Identifikation mit immergrüner westlicher Expansionspolitik, der eine
                   Welt des 21. Jahrhunderts voller Kriege und Gewalt verheißt, dem Gegenteil der
                   Volmerisch schöngeredeten "Weltinnenpolitik". Letztere müsste man gegenüber
                   den eigenen Interessen kritisch, reformriskant und reformverantwortlich gestalten
                   und sich nicht nur gewaltig dem Gewalthegemon der Welt unterwerfen.

                   Das aber verlangte wahre Politik, die nicht nachäffen, die vielmehr im Sinne von
                   Menschenrechten gestalten will. Sie müsste unter anderem die Verhältnisse
                   umkehren und die Abermilliarden statt für Rüstung für Friedensförderung und zivile
                   Bearbeitung von Konflikten einsetzen. Das verlangte eine Politik, die anstrengend
                   den Möglichkeitssinn beförderte und Frieden durch den allmählichen Abbau von
                   Gewalt nach und nach möglich machte. Indem sie Aggressionen individuell und
                   kollektiv nicht leugnete, jedoch deren massive Ursachen abbauen hälfe und Formen
                   des Konfliktumgangs fände, die politisch den Problemen angemessen wären.



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