IPPNW-Forum Heft 60 - Dezember 1999

Atomkonsens: Freibrief für maximale wirtschaftliche Verwertung

Die Grünen drohen in der Atompolitik vollständig zu scheitern. Nach einem Jahr rot-grüner Regierungskoalition akzeptieren Regierungsmitglieder, Bundestagsfraktion, Parteispitze und auch die Spitzen der Landesverbände von Bündnis 90/Die Grünen die Vorgaben von Bundeskanzler Schröder. Derzeit deutet sich an, dass in dieser Legislaturperiode kein einziges Atomkraftwerk stillgelegt werden soll. Es gibt in der rot-grünen Bundesregierung noch nicht einmal eine Festlegung darauf, dass keine neuen Atomkraftwerke im Ausland durch Staatskredite und Hermes-Bürgschaften unterstützt werden. Die rot-grüne Legislaturperiode kann mit den absehbaren Detail-Vereinbarungen mit der Atomwirtschaft möglicherweise mehr Schaden anrichten als die konservativ-liberale Kohl-Regierung in den Jahren zuvor.

Laut Presseberichten Ende November haben sich Außenminister Fischer und Umweltminister Trittin mit Bundeskanzler Schröder darauf geeinigt, dass die Atomkraftwerke in Deutschland jeweils 30 Jahre unbehelligt betrieben werden dürfen. Zudem soll eine Übergangsfrist von rund drei Jahren für die ältesten Schrottmeiler gelten, so dass noch nicht einmal die Mini-Atomkraftwerke Obrigheim (bisherige Laufzeit: 31 Jahre) und Stade (27,5 Jahre) in dieser Legislaturperiode vom Netz gehen müssen. Der jüngste Reaktor Neckarwestheim-2 (10,5 Jahre) soll erst in rund 20 Jahren vom Netz gehen.

Die Gefahr einer Reaktorkatastrophe spielt bei den Entscheidungen der Grünen keine Rolle mehr. Es geht allein um die Chancen bei der nächsten Bundestagswahl. Die einen befürchten Stimmenverluste, wenn kein einziges Atomkraftwerk bis 2002 abgeschaltet wird. Andere spekulieren bereits darauf, dass die WählerInnen dann erneut Grün wählen müssten, damit erste Atommeiler nach 2002 stillgelegt werden. Ein übles Kalkül!

Nicht einmal ein fairer Kompromiss

Die rot-grüne Bundesregierung wird der Öffentlichkeit die Laufzeitgarantie von 30 Jahren als Atomausstieg verkaufen wollen. Sie wird den „Konsens“ mit der Atomwirtschaft als Erfolg preisen. Doch dieser Pakt mit der Atomwirtschaft, der vor Jahren einmal ein breiter „gesellschaftlicher Konsens“ sein sollte, ist noch nicht einmal ein fairer Kompromiss. Denn die Atomkraftwerke waren ursprünglich für eine Nutzungsdauer von rund 19 Jahren ausgelegt. In diesem Zeitraum werden nicht nur die Kredite verzinst und getilgt, die Betreiber erwirtschaften zeitgleich - garantiert durch die staatliche Preisaufsicht - überdurchschnittlich hohe Gewinne. Mit einer Laufzeitgarantie von 30 Jahren räumt Rot-grün den Atomkraftwerksbetreibern und der Atomservice-Firma Siemens trotz massiver Sicherheitsbedenken bis zu 10 Jahren Extraprofite ein.

Wie die Stilllegung des Atomkraftwerks Würgassen im Jahr 1995 zeigte, konnte ein Atomkraftwerk selbst unter Monopolbedingungen deutlich unter 30 Betriebsjahren wirtschaftlich untragbar werden, wenn teure Nachrüstungen anstanden. Mit dem zunehmenden Wettbewerbsdruck unter den Stromproduzenten ist eine Laufzeitgarantie von 30 Jahren aus Sicht der Atomkraftwerksbetreiber völlig ausreichend, um einen maximalen Profit aus den Anlagen herauszuholen. Die Befristung von Betriebsgenehmigungen auf 30 Jahre kann also ernsthaft nicht als Atomausstieg verkauft werden. Sie muss vielmehr als explizite Erlaubnis des Staates für eine maximale wirtschaftliche Verwertung der deutschen Atomanlagen betrachtet werden.

Dennoch wird Rot-grün die (großzügige) Befristung der Betriebsgenehmigungen als Argument heranziehen, um der Atomwirtschaft „im Gegenzug“ zahlreiche weitere Zugeständnisse zu machen. Es geht in der Substanz darum, von staatlicher Seite für die 30 Betriebsjahre einen möglichst reibungslosen und vor allem auch preiswerten Atomkraftwerksbetrieb zu gewährleisten. Die oberflächliche Genugtuung über den gelungenen „Atomkonsens“ wird zur Folge haben, dass ein Großteil der rot-grünen Parteibasis ebenso wie die Medien und die breite Öffentlichkeit großzügig über das Kleingedruckte der Vereinbarung hinwegsehen werden.

Die Öffentlichkeit wird großzügig über das Kleingedruckte hinwegsehen

Bundeswirtschaftsminister Müller, der ehemalige Manager des Atomkraftwerksbetreibers VEBA, handelte im Auftrag von Bundeskanzler Schröder bereits vor Monaten mit den Atomkonzernen das kleingedruckte aus. Demnach sollen Sicherheitsüberprüfungen der Atomkraftwerke „gemäß dem bestehenden Regelwerk" vorgenommen werden. Es sollen keine ,,Korrekturen am atomrechtlichen Rahmen, namentlich solche, die den Interpretationsspielraum des Gesetzes für den laufenden Betrieb und die Gewährleistung der Sicherheit betreffen", vorgenommen werden. Der Reaktorbetrieb soll nicht durch behördliche Interventionen gestört" werden.

Das heißt im Klartext, dass neue sicherheitstechnische Erkenntnisse oder auch die Neubewertung bekannter Risiken nicht zu verschärften sicherheitstechnischen Anforderungen führen dürfen. Hintergrund: Eine Neubewertung der Sicherheitsphilosophie könnte sehr viele und sehr teure Nachrüstungen erforderlich machen und damit den wirtschaftlichen Betrieb der atomaren Altanlagen deutlich vor Ablauf der 30 Jahre Betriebszeit in Frage stellen.

Nach den Vorstellungen von Wirtschaftsminister Müller und seinen Ex-Arbeitgebern soll sich der Staat auch verpflichten, die „wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Kernenergienutzung nicht durch einseitige, nur die Kernenergie betreffende Maßnahmen, insbesondere im Steuerrecht“ zu beeinträchtigen. Die Einführung etwa einer Uransteuer im Rahmen eines Ökosteuerkonzepts wird mit einer solchen Klausel unmöglich gemacht. Das Steuerrecht gehört zu den Kernkompetenzen des souveränen Staates, nicht zuletzt, um Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu setzen. Eine rechtsverbindliche Zusage für einen 20-jährigen Steuerverzicht ist eine Abtretung der staatlichen Souveränität in nicht hinnehmbarem Ausmaß.

Rot-grün hilft Atomkonzernen aus der Klemme

Weiterhin sieht das Müller-Papier vor, die ,,Dauer von Genehmigungsverfahren, z.B. zu den Nukleartransporten“, ,“kurz (zu) halten“ und die ,,zügige Abwicklung von atomrechtlichen und anderen, den Betrieb von Kernkraftwerken oder die Entsorgungsanlagen betreffenden Verwaltungsverfahren der Länder sicherzustellen. Trittins Beamte dürften sich künftig pflichtbewusst um die schnelle und „unbürokratische“ Genehmigung zum Beispiel von Atomtransporten bemühen.

Damit ist einer der zentralen Punkte benannt: die materiellen und juristischen Implikationen des ungelösten Atommüll-Problems. Die rot-grüne Bundesregierung möchte den im Atommüll erstickenden Betreibern durch ein ganzes Maßnahmenbündel aus der Patsche helfen. Kurzfristig ist die Bundesregierung bereit, sogenannte „Transportbereitstellungslager“ zu genehmigen. Damit will sie trotz erheblicher rechtlicher und sicherheitstechnischer Bedenken die Aufbewahrung abgebrannter Kernbrennstäbe in Castoren unter freiem Himmel auf den Kraftwerksgeländen erlauben.

Mittelfristig sollen sogenannte ,,standortnahe Zwischenlager“ gebaut werden, die ermöglichen sollen, den Atommüll gleich neben den Kraftwerken für Jahrzehnte zu lagern. Ebenso wie bei der kurzfristigen Lösung geht es hierbei allein um eine Reduzierung von Atomtransporten quer durch die Bundesrepublik. Da diese wegen des notwendigen Polizeischutzes extrem teuer sind und auch personell an die Kapazitätsgrenzen der Polizei stoßen, ist praktisch nur ein Transport pro Jahr realisierbar. Zu wenig, um den Betrieb der 19 deutschen Atomkraftwerke zu gewährleisten.

Neben diesen materiellen Sorgen der Betreiber mit dem Atommüll soll auch gleich das juristische Hauptproblem der Atomwirtschaft entsorgt werden: Nach dem Müller-Papier wird die Bundesregierung den Betreibern zusichern, dass mit der Schaffung von standortnahen Zwischenlager „die Entsorgungsnachweise der Eigentümer/Betreiber nicht in Gefahr kommen und nach der o. g. Übergangszeit die geordnete Zwischenlagerung als Entsorgungsnachweis genügt.“

Geltendes Atomrecht verlangt Stilllegung der Atomkraftwerke

Diese von der Atomwirtschaft gewünschte Anerkennung der langjährigen Zwischenlagerung als ,,Entsorgungsnachweis" ist von erheblicher juristischer Bedeutung, weil das geltende Atomgesetz zwingend eine Lösung des Atommüllproblems verlangt: entweder durch eine „schadlose Verwertung“radioaktiver Abfälle oder durch eine direkte Endlagerung. Da aber die Wiederaufarbeitung keine schadlose Verwertung ist, sondern die Menge des Atommülls noch vergrößert, und ein atomares Endlager weder vorhanden noch in Sicht ist, ist die Entsorgung de facto ungelöst.

Damit ist der Betrieb von Atomkraftwerken nach dem geltenden Atomgesetz illegal. Das Atomgesetz verlangt eine Lösung des Atommüllproblems als Voraussetzung für den Atomkraftwerksbetrieb und nicht erst in der Zukunft. Nicht umsonst bemühen sich die JuristInnen der Atomkonzerne so emsig um die Anerkennung behelfsmäßiger Zwischenlager als „Entsorgungsnachweis“. Würde die rot-grüne Bundesregierung die Lösung des Atommüllproblems rechtsverbindlich als gescheitert erklären, wäre der Weg frei für der Entzug der Betriebsgenehmi-gungen. Die rot-grüne Bundesregierung ist von Rechts wegen gefordert, die Atomkraftwerke abzuschalten, auch wenn dies möglicherweise Entschädigungskla gen der Atomwirtschaft zur Folge hätte.

Finanziert rot-grün sieben neue Atomkraftwerke?

„,Atomausstieg - nur mit uns“, versprachen die Grünen im Bundestagswahlkampf. Doch sie schalten keines der Atomkraftwerke tatsächlich ab. Sie haben in der Regierung noch nicht einmal durchgesetzt, dass es keine Kredite und Bürgschaften für neue Atomkraftwerke geben wird! Bundeskanzler Schröder möchte dem ReaktorhersteIler Siemens zuliebe den Bau zahlreicher neuer Atomkraftwerke im benachbarten Ausland unterstützen. In der Ukraine will Schröder die Fertigstellung der beiden hochgefährlichen Atomkraftwerke Khmelnitzki-2 und Rowno-4 finanzieren lassen, die seit über 13 Jahren als Bauruinen vor sich hinrosten. Eine Rückzahlung der Staatskredite ist für die Ukraine nur möglich, wenn Atomstrom gegen harte Devisen in den Westen geliefert werden kann. Sollte die Bundesregierung diese Kraftwerke unterstützen, dann steht als nächstes die Finanzierung von zwei vergleichbaren Projekten in Russland (Rostov-1, Kalinin-3) auf der Tagesordnung. Siemens buhlt auch um eine Anschlussfinanzierung zur Errichtung des deutsch-russischen Atomkraftwerks WWER-640 in der Nähe von St. Petersburg. Für den Bau des Atomkraftwerks Akkuyu in der erdbebengefährdeten Türkei erwartet Siemens eine staatliche Hermes-Bürgschaft. Und an der Finanzierung des brasilianischen Atomkraftwerks Angra-3 möchten sich nach Informationen von Ux Weekly die Dresdner Bank sowie die deutsche Staatsbank Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Bundesfinanzminister Hans Eichel untersteht, beteiligen. So könnte die Bilanz der rot-grünen Regierung am Ende dieser Legislaturperiode in der Finanzierung von bis zu sieben neuen Atomkraftwerken bestehen.

Der Atomausstieg scheitert in den Köpfen

Die Positionen um einen Ausstieg aus der Atomenergie werden heute immer weniger von Sachargumenten und immer stärker von Fragen der Macht und der sozialen Anerkennung bestimmt. Noch 1996 ließ die grüne Bundestagsfraktion vom Öko-lnstitut ein Energiewende-Szenario durchkalkulieren, das ein Abschalten aller 19 Atomkraftwerke innerhalb weniger Monate unterstellt. Seit der Ex-Aufsichtsrat der PreussenElektra, Bundeskanzler Gerhard Schröder, und die JuristInnen die atompolitische Debatte dominieren, ist ein Sofortausstieg plötzlich nicht mehr „chic“, sondern gilt neuerdings schlicht als ,,unrealistisch".

Doch welche Aussagekraft haben die Bewertungen (atomkritischer) JuristInnen, die unter dem Eindruck eines zunehmenden Castor-Widerstands vor wenigen Jahren schließlich fünfjährige Restlaufzeiten als mit der Verfassung vereinbar erklärten und jetzt plötzlich wieder bei 15 Jahren angekommen sind? JuristInnen des Bundesumweltministeriums räumen ein, dass nach einem Atomunfall in Deutschland ein Sofortausstieg selbstverständlich mit der Verfassung vereinbar wäre. Auch eine stärkere Anti-Atom-Bewegung würde die rechtliche Bewertung maßgeblich beeinflussen. Es war ein grund-legender Fehler, die atompolitische Diskussion in den letzten Monaten den JuristInnen überlassen zu haben. Bei einem entsprechenden politischen Willen finden sich intelligente Wege, einen Atomausstieg politisch durchzusetzen. In einer Demokratie gilt es, das Allgemeinwohl gegenüber starken Partikularinteressen durchzusetzen.

Was ist zu tun?

Doch verlassen wir uns nicht auf eine Politik, die verantwortliches staatliches Handeln mit der „Vermittlung“ von Konzernentscheidungen verwechselt. Nachdem nun die Parteien ihren Frieden mit der Atomwirtschaft gemacht haben, werden die Aktivitäten der Anti-Atom-Bewegung, der Umweltverbände und somit auch der IPPNW um so wichtiger. Wir werden auf unser Grundrecht auf Leben und Gesundheit nach Artikel 2 GG pochen. Wir werden uns mit der Politik der Atomkonzerne nicht abfinden, ihre Rücksichtslosigkeit weiterhin öffentlich machen und mithelfen, die Atomenergie zu verteuern und Atomtransporte zu verhindern. Die größten Erfolge gegen den Ausbau der Atomenergie wurden bislang außerhalb der Parla-mente durch den zähen Widerstand der Bevölkerung errungen. Auch grüne MinisterInnen werden sich in Zukunft noch wundern und angesichts des Widerstands der Bevölkerung eingestehen müssen: „Die Atomenergie ist politisch nicht durchsetzbar.“
Dr. Jürgen Hölzinger, Henrik Paulitz


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