neue hanauer zeitung Nr. 41, Februar 1988
Tatort Hailer
Wie der Landrat mal ein Faß aufmachte
Anfang Dezember ,87. Klaus K. aus Gelnhausen-Hailer wacht morgens um halb
fünf auf. Es stinkt bestialisch von der Müllkippe. Schlimmer
als gewöhnlich. Er kriegt keine Luft mehr. Er steigt ins Auto, um
auf der Deponie nachzusehen, wer, was, wiedermal die Luft verpestet. Neben
der Zufahrt stellt er seinen Pkw auf einem Feldweg ab und beobachtet: nix
zu sehen, nur zu riechen. Die Stinker haben bereits gestern abgekippt und
längst das Weite gesucht.
Bahnbrechende Entsorgung
Er hat Zeit. Er ist arbeitslos. Er notiert die Kennzeichen und Firmennamen
der anliefernden Lkws nach dem Motto: Vorbeugen ist besser als bohren.
Klaus K. notiert nicht lange. Aus der Dämmerung mittlerweile halb
sieben - taucht ein Mann in Angestelltenzivil vor ihm auf und schnauzt
ihn an, was er hier zu suchen, aufzuschreiben hätte. "Ich will wissen,
was hier so stinkt." Der Zivile im Befehlston: "Zeigen Sie mir mal ihre
Papiere!" Klaus K. ist etwas verdutzt, bietet aber fairerweise einen Personalienaustausch
an. Jetzt folgen offene Drohungen:
"Machen Sie, daß Sie hier wegkommen, sonst passiert was! Sie
behmdern hier die Einfahrt!" Entweder ist der übergeschnappt, denkt
Klaus K., oder hier stinkt noch etwas anderes als normaler Hausmüll.
Der Mann verschwindet. Mit mulmigem Gefühl zwar bleibt Klaus K. jetzt
erst recht auf seinem Beobachtungsposten. Minuten später rast ein
Containerfahrzeug mit Vollgas auf ihn zu. Er schafft gerade noch den Sprung
ins Auto. Mit einem Blitzstart ergreift er die Flucht.
Nukleares Beichtgeheimnis
Ende November ,87. Ein für seine Anti-Atom-Haltung, gerade nach Tschemobyl,
bekannter evangelischer Theologe im Main-Kinzig-Kreis ruft bei der nhz-Redaktion
an: "Gestern hatte ich ein mehrstündiges Gespräch mit einem Mitarbeiter
aus dem mittleren Management der Wolfgänger Betriebe. Er hat sich
mir nicht namentlich vorgestellt. Es würde mir sicherlich nicht schwerfallen,
seinen Namen herauszubekommen, aber ich bin an das Beichtgeheimnis gebunden.
Ich will auch nicht, daß mein Name in diesem Zusammenhang veröffentlicht
wird. Meine seelsorgerische Arbeit, weitere Gespräche - auch mit Menschen
aus den Nuklearbetrieben - würde dadurch gefährdet.Wir haben
uns nach einem ersten Telefonat in einer Gaststätte getroffen, da
er dem Telefon nicht traut. Im Verlauf des Gespräches sagte er mir,
er könne als Christ nicht mehr verantworten, was er in den letzten
Monaten eher zufällig, außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches
über die Entsorgungspraktiken der Wolfgänger Nuklearbetriebe
erfahren habe. Seit Jahren würde radioaktiver Abfall auf Hausmülideponien
verbracht. Auf meine Zwischenfrage: ,Hier im Main-Kinzig-Kreis?' antwortete
er: ,Ja, auch hier im Main-Kinzig-Kreis.' Wie er denn darauf käme,
sich an mich zu wenden und nicht an die zuständige Staatsanwaltschaft?
"Ihr Name wurde bei uns auf allen Etagen als Sicherheitsrisiko, als Spiritus
Rector der kirchlich engagierten Atomkraftgegner und als Mittelsmann der
Grünen gehandelt." Und warum nicht zum Staatsanwalt? "Wenn mein Name
auftaucht, habe ich mit schwersten Konsequenzen zu rechnen. Außerdem
wird man sofort meinen, ich wolle nur aus persönlichen Gründen
Kollegen abschießen...Dem Beichtgeheimnis traue ich mehr, als der
Ver-schwiegenheitspflicht der Staatsanwaltschaft ...Im Interesse der Sache
wäre es besser, wenn Sie als Außenstehender über Ihre Kontakte
Untersuchungen einleiten."
In einem Gespräch zwischen nhz-Redakteuren und dem unfreiwilligen
Nuklear-Seelsorger kamen wir zu dem Schluß, daß das Wolfgänger
Management - gerade nach den verlorenen Prozessen in Hanau - versuchen
könnte, Kritiker durch lancierte Falschmeldungen unglaubwürdig
und damit mundtot zu machen. Wir beschlossen, die Sache weiter zu verfolgen,
weitere Gespräche zu führen, aber zunächst - solange der
Mitarbeiter keine eidesstattliche Versicherung abgibt, keine Beweise vorlegt
und anonym bleiben will - nichts zu veröffentlichen.
Die Entwicklung hat uns überrollt. Die 121 in Haller gefundenen
Fässer sind nur die Spitze des auch in unserer Region ver-buddelten
Müllberges der Nuklearbetriebe. Aber wer wird in Hailer "tiefergreifende
Untersuchungen" anstellen, blindlings bohren, verbuddelte Fässer dabei
beschädigen und eventuell (noch mehr?) Radioaktivität freisetzen?
Was ist, wenn nicht mehr auffindbare Fässer, von Korrosion zerfressen,
Radioaktivität ans Sickerwasser abgeben (unter Einwirkung der in Haller
lagernden chemischen Substanzen geht das eventuell sehr schnell)? Was,
wenn Radioaktivität chemische Reaktionen unbekannter Art und unbekannten
Umfangs auslösen, wenn radioaktive Gase durch die "Biogas"-Fernleitung
von der "Haus-mülldeponie" Hailer ins Heizwerk der Firma Veritas in
Gelnhausen gelangen? Oder kontaminiertes Sickerwasser in die Kläranlage
nach Lieblos? Wieviele Fässer, wieviele Tonnen strahlen-der "hausmüllähnlicher"
Abfall lagern in Haller?
Strahlender Müll in Haller: Seit 1984 bekannt
Der Ortsverband der Grünen in HasseirothiFreigericht hat 1984 in einer
Presseerklärung die Nuklearbetriebe beschuldigt, sie würden schwachradioaktiven
Abfall als "hausmüllähnlich" deklariert in Haller ablagern. Nach
Informationen der Grünen aus den Wolfgänger Betrieben wurde radioaktiver
mit nicht-aktivem Müll soweit vermischt, daß die zulässige
Strahlungshöchst-grenze pro Raumeinheit unterschritten wurde. Ein
Radioaktivitätsnachweis wäre in diesem Fall nur mit kompliziertesten
Geräten möglich gewesen, über die der Kreis als zuständige
Behörde nicht verfügt.
Die Nuklearbetriebe drohten dem Grünen Ortsverband öffentlich
mit Strafanzeige wegen falscher Anschuldigung, Verleumdung, übler
Nachrede usw. Die Firma Nukleartechnik Gelnhausen (NTG) verlangte schriftlich
von den Grünen Unterlassung und Gegendarstellung, ansonsten würden
gerichtliche Schritte eingeleitet.
Obwohl der Ortsverband nunmehr vier Jahre lang nicht widerrufen, nichts
gegendargestellt, vielmehr seine Anschuldigungen öffentlich wiederholt
hat, wartet er heute noch auf eine Anzeige. Das Management in Hanau-Wolfgang
und Gelnhausen mußte offenbar 1984 fürchten, daß die Grünen
den Wahrheitsbeweis für ihre Anschuldigungen antreten könnten.
Warum das Batelle-Institut kritische Betriebsräte feuert
Daß das Batelle-Institut in 121 Fässern auf der Hallerer Mülldeponie
keine erhöhte Radioaktivität gefunden hat, kann schon sein Kann
sein, daß die Nukem besonders gut gemischt hat.
2 (in Worten zwei!) Proben von 121 Fässern wurden vom Batelle-Institut
als repräsentativ erkannt und auf Gammastrahlung untersucht. Auch
Fehlanzeige? Die Frankfurter Rundschau vom 29. 1. schreibt: "NUKEM-Fässer
in Hailer harmlos". - Aber nur, wenn man die chemische Analyse verharmlost.
Kohlenwasserstoffe verschiedenster Sorten, Benzol (krebser-regend), usw.
Der Untersuchungsbericht liest sich wie die Inventur eines Sandoz-Außenlagers.
Seit Tagen wird nach 5 Dioxinhaltigen Nukem-Fässern gefahndet, die
selbst die hartgesottenen Giftmüll-Lageristen von Herfa-Neurode abgelehnt
hatten. Vielleicht liegen sie irgendwo in Hailer, Hohenzell oder sonstwo
auf einer Hausmülldeponie. Nun ja, sei's drum, wenn wir die Wahl haben
zwischen Plutonium und Dioxin, dann ist uns unser gutes, altes Dioxin doch
lieber.
Das Batelle-Institut soll - so war aus gewöhnlich gut unterrichteten
Kreisen unterhalb der Kreisspitze zu erfahren - in Zukunft als unabhängiges
Institut den Hausmüll der Nuklear-Firmen auf deren Kosten kontrollieren.
Neutral? Unabhängig?
Ob das Institut mit der kriminellen Vereinigung von Hanau-Wolfgang direkt
verwandt oder verschwägert ist, ist noch nicht geklärt. Spielt
aber auch keine entscheidende Rolle, was nicht ist, kann ja noch werden.
Klar ist allerdings, daß das Batelle-Institut 1975 im Auftrag
des damaligen Bundesforschungs- ministers Matthöfer (SPD) ein Großprojekt
zur Durchsetzung des Atomprogramms in Ballungszentren und an den voraussichtlichen
Standorten für Nuklearanlagen erstellt hat: Feldforschung über
den zu erwartenden Widerstand, Möglichkeiten der Akzeptanzförderung.
Als sich seinerzeit auf dem Hintergrund des Kampfes der Kaiserstühler
Bauern gegen das Kernkraftwerk Whyl Sozialwissenschaftler und Betriebsratsmitglieder
des halbstaatlichen Instituts gegen dieses Projekt zur Wehr setzten, drohte
Matthöfer als "altgedienter Metallgewerkschafter" in Gesprächen
unter vier Augen mit schärfsten Sanktionen bis hin zu eigetihändig
ausgeführter körperlicher Gewalt. Dies für den Fall, daß
der Inhalt der Gespräche und der Inhalt des Forschungsauftrages an
die Öffentlichkeit käme.
Die betroffenen Wissenschaftler und Betriebsräte ließen sich
nicht einschüchtern, machten die Pläne und Ausfälle des
"Kollegen" Matthöfer publik - und wurden vom Batelle-Institut ge-feuert.
Wir sind auf die Untersuchungsergebnisse des Instituts gespannt.
Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser
Rainer Krätschmer, Spessart- und SPD-Kreistagsfraktionshäuptling,
hatte nach Tschemobyl grenzenloses Vertrauen zu den Wolfgänger Betrieben:
Er ließ die Radieschen und Salatköpfe, die Waldpllze und das
Heu seiner Flörsbachtaler Untertanen von Nukem, Alkem, RBU und Konsorten
auf russische Becquerel untersuchen. "Kostenlos" hätten die das für
ihn gemacht, berichtete er stolz.
Bei der Kontrolle des "hausmüllähnlichen" Abfalls aus den
Nuklearbetrieben verließen sich Rainer Krätschmer, die SPD und
die Kreisverwaltung bislang auf die "Selbstkontrolle" der Wolfgänger
Unternehmen ("Die haben die dafür nötigen Anlagen").
Die Anträge der Grünen zur Kündigung der 300.000 Mark
teuren und wirkungslosen Bewachung der Hausmülldeponie Haller durch
eine Wach- und Schließgesellschaft wurde von der CDU und der SPD
jahrelang abgelehnt und ignoriert, genauso wie die Forderung nach qualifizierter
Eingangskontrolle. Als die Grünen jetzt angesichts der Atommüllschieberei
und der Fässerfunde in Haller die Errichtung von Eingangskontroll-Labors
forderten, um den Müll überprüfen zu können, sagten
die SPD und der Landrat endlich eine Prüfung zu. Geprüft werden
soll jedoch nicht der Müll, sondern der Antrag, der im übrigen,
so Landrat Eyerkaufer, sehr wahrscheinlich nicht zu realisieren sei. Die
jüngste Forderung der Kreisspitze an Herrn Töpfer, eine Bundes-Kontrollbehörde
in Hanau anzusiedeln, wird nichts bringen außer pressewirksamer Anti-Atom-Imagepflege
und die Möglichkeit, sich durch Flucht nach vorn aus der Verantwortung
zu stehlen. Denn der Landrat hat bisher als Polizeichef zum Beipiel das
Recht und die Pflicht, nach der Gefahrengutverordnung jeden Atom- und Atommülltransport
im Kreis zu kontrollieren.
Grüne als Kronzeugen: Eyerkaufer hat den Kreis doch zugemacht
-
1. Während der Verhandlungen der Grünen mit der SPD über
eine kontinuierliche Zusammenarbeit im Main-Kinzig-Kreis drohten die Grünen:
Wenn der Landrat den Kreis nicht für Atom(-Müll)- Transporte
zu macht, erklären wir die Verhandlungen für gescheitert. Dies
konnten wir der Tagespresse entnehmen.
-
2. Die Verhandlungen sind inzwischen mit einem beiderseitigen Ja-Wort erfolgreich
abgeschlossen worden. Auch das konnten wir der Tagespresse entnehmen.
-
3. Weiter meldeten die Zeitungen, der Landrat habe zwar als Polizeichef
ein Tor (leider das falsche) der Wolfgänger Firmen bewachen und die
Lkw-Ladungen per Augenschein gemäß der Angaben auf den Ladepapieren
kontrollieren kissen. Er habe aber keineswegs den Kreis für Atomtmnsporte
zugemacht. Gerüchte, wonach er die Anweisung gegeben habe, alle Lkws
aufzuhalten, wenn deren Ladepapiere das Wort "Atommüll" enthalten,
wurden bisher nicht bestätigt.
-
4. Bei einer beliebten Fernsehsendung von Radio Bremen konnten wir wiederum
aus Eyerkaufers eigenem Mund erfahren, er habe doch zugemacht, nur der
Innenminister, das Regierungspräsidium hätten ihn gleich wieder
zum Aufmachen gez wungen.
-
5. Ob nun fünf Sekunden oder sogar fünf Stunden zwischen Zu-
und Wiederaufmachen lagen - Fakt ist, der Landrat hat sein Wort gehalten.
Die Grünen hatten ihm ja auch nicht gesagt, wie lange er zumachen
muß, damit die Verhandlungen nicht scheitern.
Was schließen wir aus 1 bis 5?
Es gibt Leute, für die ist es nicht 5 Minuten vor 12, sondern
immer 3 nach 9.
The talkshow must go on!
Hartmut Barth-Engelbart
Anmerkung der Redaktion:
Dieser Artikel besteht zum Teil aus nicht gerichtsverwertbaren
Schilderungen, weil unsere Informant(innen)en aus berechtigter Angst und
anderen vertretbaren Gründen anonym bleiben wollen und müssen.
Bei unseren Recherchen über Praktiken (nicht nur) der Hanauer Atom-Mafia
stoßen wir auf eine Wand des Schweigens nahezu sizilianischen Ausmasses.
Wir bitten unsere Leserinnen, uns lede auch scheinbar unerhebliche Information
über die Wolfgänger Betriebe (Arbeitsbedingungen/Geschäftsbeziehungen/Störfälle/etc.)
zugänglich zu machen. Dieser Appell richtet sich besonders an Mitarbeiter
und an aktive und ehemalige Leiharbeiter.
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