neue hanauer zeitung Nr. 57, Mai/Juni 1990


Hanauer Solidarität mit den Opfern von Tschernobyl

Die Katastrophe geht weiter - In der Sowjetunion wächst der Widerstand gegen die Atomindustrie

Manche sagten den Hanauem Atomgegnem nach der Prozcßscrie schon ein ewiges Dahindümpeln im eigenen Sumpfvoraus. Doch der 4. Jahrestag der Tschemobyl-Katastrophe hat gezeigt: In Hanau und Umgebung sind viele Menschen bereit, gegen die Atom-lobby und ihre Märchen auf die Straße zu gehen - mindestens 500 wie an diesem 26. April, vielleicht aber auch mehr.

Daß sich die Hanauer Anti-Atom-Gruppen auf den aussichtslosen Lokalstreit mit dem Multi Siemens zurückgezogen hätten, ist eine weitere grassierende Legende. Immerhin hat die kleine IUH geschafft, was mancher Großstadt-BI nicht gelingt: Den Karnpf vor Ort mit seiner internationalen Dimension praktisch zu verbinden.

Wladimir Sakowitsch, als Oberst bei seinem 40tägigen Katastropheneinsatz in der Strahlenhölle von Tschemobyl verseucht und wegen der Spätfolgen mit 56 Jahren Rentner, ließ bei der Kundgebung auf dem Marktplatz betroffene Stille aufkommen. Da sprach einer, der durch die Erfahrung mit den Folgen der Radioaktivität zum Nachdenken und Handeln gekommen ist.

Sakowitsch, einer von 600.000 in Tschemobyl eingesetzten Soldaten, hat es sich für sein verbleibendes Leben zur Aufgabe gemacht, den unschuldigsten Opfem des atomaren Machbarkeitswahhs, den Kindern von Tschernobyl, zu helfen. Sie sterben leukämiekrank, wie MdB Petra Kelly aus eigener Erfahrung in sowjetischen Kinderkliniken berichtete, den Ärzten unter den Händen weg.

Millionen Menschen leben in verseuchten Regionen

Sakowitsch: »Tschernobyl war eine Tragödie, die keinen Vergleich in der Weitgeschichte hat.« Die damals freigesetzte Radioaktivität entspreche der von 90 Hiroshima-Bomben.

Der 56jahrige Gast aus Gomel bedankte sich für die intemationale Solidarität und für die Massenaktionen gegen die Atomindustrie in der Bundesrepublik und in Japan.
>Sie zeigen uns, wir stehen nicht allein.« Rund 1900 Mark wurden bei der Kundgebung für die Beschaffung von unverseuchter Kindemahrung und die mediziniche Versorg,ung gesammelt.

Arbeiter streiken für Stillegung: In Hanau noch undenkbar

Während Sakowitsch in Hanau sprach, treikten die Arbeiter zahlreicher Betriebe in einer Heimatstadt Gomel für die endgültige Schließung von Tschernobyl. Das sollten jene Atomarbeiter in den Hanauer Brennelementefabriken bedenken, wenn sie wieder einmal zum Schulterschluß mit ihrer Geschäftsleitung aufgefordert werden: Ihre Arbeitsplätze könnten sehr schnell zu Todesplätzen (Robert Jungk) werden - bei der nächsten Katastrophe in irgendeiner von Siemens belieferten Atomanlage.

Menschen wie Wladimir Sakowitsch gehörten nicht von jeher zu den Atornkraftgegnern. Sie sind es geworden, weil die Atornkraft nicht nur ihr Leben, sondern das Leben schlechthin bedroht. Sakowitsch: »Wir wünschen den Menschen, daß sich Tschernobyl nicht wiederholt - es ist schrecklicher als ein Krieg.« Doch wer will das garantieren und im »Garantiefall« dafür haftbar gemacht werden? Etwa die Geschäftsleitung von Siemens?

Das sowjetische Fernsehen hat am 26. April eine ganztägige Sondersendung zugunsten der Opfer von Tschernobyl ausgestrahlt, die unter anderem in Japan, den USA und Großbritannien direkt übertragen wurde. Warum nicht in der BRD?

Das deutsche Atornkapital drängt es wie andere Branchen auf die neuen Märkte nach Osten, dort soll die eigene atomare Zukunft über die hiesige Stagnation hinweggerettet werden. Gleichzeitig ist ein Europäisierungsprozeß im Gange und der atomare Kolonialismus wird ausgebaut: Atommüll wird künftig nicht nur nach Sellafield geschafft, wo heute schon die Spermien von Atomarbeitern mutieren, sondern auch in die Länder der Zweidrittelwelt, deren Bevölkerungen seit Jahrzehnten unter dem Uranabbau leiden.

Petra Kelly betonte in Hanau, daß Atomkraft eine Kriegserklärung an das Leben darstellt. »Die Atomlobby muß begreifen, was Tschernobyl bedeutet. im Namen der Kinder von Tschernobyl: Laßt uns die Atomindustrie stillegen.«

Sakowitsch berichtete erfreut, daß der Bau eines neuen Akws bei Minsk verhindert worden ist. Im Gebiet von Gorkij hat sich eine breite Bürgerbewegung gegen ein geplantes Akw entwickelt, die sowohl den Bauplatz besetzt wie große Kundgebungen organisiert hat. In der Sowjetunion wächst an vielen Orten der Widerstand gegen das Atomprograrnm der Bürokratie. Daher war die Veranstaltung in Hanau ein gut gezielter Nadelstich, wenn auch die IUH sich einen noch besseren Besuch erhofft hatte.

Eberhard Stickler


Zurück zur Homepage  ÖkoBüro Hanau

Zurück zur Übersicht Lokale Infos zur Ökologie

Zurück zur Übersicht Hanauer Nuklearbetriebe