Ein Sommer der Peinlichkeiten liegt hinter der Hanauer Atomgemeinde, die sich so wohlgeordnet für neue Taten fühlt:
Im Transnuklear-Prozeß, der im Juli mit dem höherenorts einkalkulierten und von der nhz im April prognostizierten Bauemopfer der TN-Manager Vygen, Knackstedt und Bretag endete, verwies selbst der Richter auf die gesetzlich verordnete Beschränkheit der Anklage. Knast gab's lediglich für Veruntreuung von Firmengeldern, professionelle Atommüllschiebereien haben die Strafgesetzautoren noch nie gejuckt. So blieb im TN-Prozeß, wie absehbar, auch ohne Belang, daß der Abfall als wichtige Lücke in der Plutoniumflußkontrolle gilt.
Am 17. Juni sorgte der siebte Störfall des Jahres im Siemens-Brennelementewerk für die noch andauernde Stillegung der Plutoniumverarbeitung - wovon auch das Bundeslager betroffen ist -, für wochenlanges Firmengezeter um die vom Grünen-Umweltminister angeordnete Schwachstellen-analyse durch das Öko-Institut und für den Auftakt zu einer sommerlichen Pannensene. Alle paar Tage ein Nadelstich in den Popanz der nuklearen Unfehlbarkeit - auch dies nervte die Atomiker: ihre Plutonium-Verpackungskünste, die wiederholte Kontamination von Arbeitern, Blähungen der Plutoniumdosen, ein Hitzeausfall der Lüftungsanlage und eine nicht einmal regendichte Sicherheitsschleuse der Plutoniumfabrik beeindruckten selbst die Hanauer Bäcker-laden-Öffentlichkeit. Sogar das Hanauer Stadtparlament war am 25. Juni einmütig hinter Joschka Fischer zusammengerückt, nachdem die SPD die revolutionäre Forderung »Scheuklappen absetzen!« erhoben hatte. Ende August setzten die Blauen Wolken von Wolfgang noch eins drauf: Nach der Stillegung auch der Uranchemie wird Siemens leicht säuerlich.
Was will das für eine Weltmacht werden, die Risse in Plastikhüllen, Gewitterregen und Ammoniakdunst fürchten muß? Wie will das neue Deutschland mit einer derart mimosenhaften Basis zu nuklearen Ehren kommen, hat Hanau doch nicht das Zeug zur Bombenstadt?
Großvater hatte sich das gewiß alles einfacher vorgestellt, vor 35 Jahren, als er seinen stiemackigen Atomminister zur »Degussa-Nukleargruppe« nach Hanau schickte, um den ersten selbstgebastelten Uran-Brennstab zu feiern. Zwar ist der Name Nukem seit der Firmengründung 1960, als ein neues Zentrifugen-Anreicherungsverfahren die »Atombombe des kleinen Man-nes« versprach, in der Weltöffentlichkeit mit dem Streben nach deutschen Atomwaffen verbunden. (Damals intervemierte immerhin Eisenhower bei Adenauer, damit das Verfahren unter »Geheimschutz« gestellt wurde, doch solche Schönheitsfehler werden auf die bewahrte Hanauer Art bewältigt.) Doch eine richtige Bombe ist's bis heute nicht geworden; Großvaters liebsten Traum allerdings, die Wiedervereinigung, haben die Enkel auch ohne sie verwirklicht: Ist also eine nuklear bewaffnete Bundeswehr politisch entbehrlich geworden?
Jelzins Verbot der KPdSU und ihre folgende Destruktion kam ihrer versuchten Umwandlung in eine bürgerlich-sozialdemokratische Partei zuvor: Ob dies für den westlichen Kapitalismus und seine russischen Freunde günstiger ist, wird sich zeigen. Aufgrund des Doppelcharakters der KPdSU - Restbestand einer politischen Partei und Staatskern - war dieses Verbot der entscheidende Schlag gegen die bisherigen Strukturen der Sowjetunion. Sie zerfallen daher im Eiltempo. Ob dabei ausschließlich Rußland oder eine neue Unionsarmee lückenlosen Zugriff auf die Atomwaffen der früheren Sowjetunion erlangt, ist der Stoff, aus dem die Real-Thriller sind. Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums sind 80 Prozent aller sowjetischen Atomwaffen aufrussischem Territorium stationiert; Interkontinentalraketen stehen außerdem in der Ukraine, in Weißrußland und Kasachstan. Die Ukraine hat sich inzwischen zur atomwaffenfreien Zone erklärt. Jelzin kündigte an, daß alle dort gelagerten Atomwaffen in die Russische Föderation verlagert werden.
Dennoch werden die Atomwaffen in den künftigen Auseinandersetzungen zwischen den Republiken eine Rolle spielen, wenn es nicht zu einer neuen Union mit einer gemein-samen Unionsarmee kommen sollte. Auf deren schnellen Schaffung - als Berufsarmee mit Atommonopol - legte der neue sowjetische Verteidigungsminister Schaposchnikow daher besonderen Wert. Nachdem sich z.B. an der Auseinandersetzung zwischen Rußland und der Ukraine gezeigt hatte, welcher Sprengstoff im Zerfall der bisherigen UdSSR-Strukturen steckt, bezeichnete auch Jelzin in einer gemeinsamen Erklärung mit Kasachstans Präsident Nasarbajew die Beibehaltung einer gemeinsamen Unionsarmee als »wünschenswert«. Nasarbajew fordert von Jelzin den Verzicht auf Gebietsansprüche und erinnert an die Gefahren, die ein Volksaufstand in der »Atomrepublik« Kasachstan in sich berge.
Hierzu sei ein kleiner Exkurs in die Geschichte der Perestroika gestattet:
Spätestens Anfang der 80er Jahre hatte der Westen den Kalten Krieg
militärtechnisch, ökonomisch und ideologisch gewonnen. Der furchterregende
russische Bär, der einst den deutschen Adler so arg zerzaust hatte,
konnte nicht mehr mithalten: weder bei der elektronischen Umwälzung
von Produktions-und Militärstrukturen, noch bei dem neuen Internationälisierungsschub
und schon gar nicht mehr politisch. Nicht zufällig begann die »Krise
des Marxismus« Mitte der 70er Jahre mit der Durchsetzung eines neuen
Produktionstyps im Westen und dem folgenden langen Aufschwung des Kapitalismus.
([)er neue Produktionstyp wird gern auch als Postfordismus bezeichnet,
weil mit Computern, Industrierobotern, automatischen Produktionsstraßen
usw. die für den Fordismus typische Masse von Montage- und Fließbandarbeiterlnnen
wegrationalisiert wurde. Die Unterordnung der Arbeitskräfte unter
die Interessen der Unternehmen wurde spürbar verstärkt, die Kapitalmacht
gesteigert.) Die zentralistischen Kommandostrukturen in der UdSSR, die
über einige Jahrzehnte eine nachholende Industrialisierung und ein
militärisches Gleichziehen, aber nie das »Überholen«
des Kapitalismus ermöglicht hatten, versagten gegenüber der neuen
Kombination von Internationalisierung, Dezentralisierung und Flexibilisierung
im neuen Produktionstyp. Der Stalinismus, der den internationalistischen
Inhalt der Oktoberrevolution ebenso wie deren Befreiungssubstanz in eine
unantastbare Tiefkühltruhe versenkt hatte, reagierte auf die neue
Herausforderung innenpolitisch mit einem neuerlichen Ausbau der Repressionsapparate,
was seine Krise nur verschlimmern konnte.
Denn die Etablierung des neuen Produktionstyps erforderte flexible,
innovations-freudige und individualistisch angepaßte Mittel- und
Produzentenschichten, wie sie im Westen in den 70er Jahren herangewach-sen
waren. Mit zwangsdisziplinierten Untertanen, die sich durch kollektive
Gammelei gegen das Kommando wehrten und ihr unterdrücktes Innovationspotential
in der Schattenökonomie auslebten, war die »wissenschaftlich-technjsche
Revolution« nicht auf breiter Front durchzusetzen.
Als Gorbatschow die Bühne betrat, war der Spätstalinismus mit seinem bürokratischen Latein bereits am Ende, der Systemkonflikt im wesentlichen entschieden, es ging nur noch um Ausmaß, Frist und Modalitäten der Kapitulation: Das »neue Denken« konnte mit seiner »Revolution von oben« weder eine sozialistische Basisdemokratie durchsetzen, noch eine sozialistische Antwort auf den neuen Produktionstyp des Kapitalismus geben.1 Dazu fehlten trotz einer begrenzten Verabschiedung von stalinistischen Herrschaftsformen alle Voraussetzungen.
Außenpolitisch proklamierte Gorbatschow den Versuch, auf der Grundlage atomarer Parität »verlaßliche Garantien für das Überleben der Menschheit« zu entwickeln. Er mußte jedoch auch auf diesem Weg die UdSSR immer tiefer dem Westen unterwerfen. Ob eine Welt des dauerhaften Friedens überhaupt durch Vereinbarungen zwischen staatlichen Gewaltmaschinen zu erreichen ist, erscheint zumindest zweifelhaft; fast unmöglich dürfte diesjedoch im Spannungsfeld innerimperialistischer Widersprüche sein: die nun herrschende Eine Welt des Kapitalismus erhöht das Risiko des »begrenzten« Einsatzes von Atomwaffen, da das Reich der Konkurrenz immer den Keim des Krieges in sich trägt. Der Golfkrieg war der Einstieg in die Neue Weltkriegsordnung.2 Der Zerfall der UdSSR und der eskalierende Konflikt in Jugoslawien könnten zum zweiten Schritt auf diesem Elendsweg werden.
Die neuen Konfrontationen, eben ohne Sowjetsystem, stehen jedoch noch bevor. Es sind die alten. Auch vor 1914 hatten etliche Sozialdemokraten von der Friedensfähigkeit des Kapitalismus geträumt ... bis sie den Kriegskrediten zustimmten. Der russische Nationalismus, auf den sich der Populist Jelzin bei seiner eiligen Unterwerfung unter die Welt der Reichen stützt, ist nicht mehr schwächlich wie 1914, sondern atomwaffenbewehrt. Da die Restauration eines erneut vom Westen abhängigen Kapitalismus in den miteinander konkurrierenden Bruchstücken der ehemaligen Sowjetunion nicht ohne Verschärfung der Krise abgehen wird, werden die neuen Kapitalisten und ihre demokratischen Politiker eine herrschaftssichernde Ideologie brauchen und im Nationalismus finden. Wenn die schon brodelnden verschiedenen Nationalismen in der Ex-UdSSR bei ökonomischen Abstürzen mit Massenarbeitslosigkeit, Hungersnot etc. nicht gestoppt werden, kann sich aus ihnen ein neues Kriegsrisiko entwickeln. Zumal die ökonomischen Unterschiede, das West-Ost-Gefälle, zwischen den einzelnen Ex-Sowjetrepubliken extrem groß sind. Der »worst case« wäre ein Mega-Jugoslawien,
womit Gorbatschow am Ende das Gegenteil dessen eingeleitet hätte, was er militärpolitisch erreichen wollte.4 Der Westen hat an einer solchen Entwicklung sicherlich kein Interesse, aber ebensowenig an einer Dritte-Welt-Macht mit ebenbürtigen Atomwaffen.
Welche Auswirkungen die ökonomische Nutzung des ehemaligen Sowjetreiches durch West-Konzerne haben wird, laßt sich noch nicht abschätzen. Die US-Ölmultis streiten sich bereits eine Woche nach dem gescheiterten Staatsstreich um die Ausbeutung von Ölfeldern in der Ex-UdSSR. Schon der Weltwirtschaftsgipfel in London hatte bestätigt, daß der Westen kein Interesse an einer Gesamtsanierung der sowjetischen Wirtschaft hat, sondern nur an der Ausbeutung der Rohstoffquellen.
Aufgrund dieser Situation sind einige traditionsreiche Motive für die Atombewaffnung der Bundeswehr schon 1990 entfallen: Vergangenheit sind die jahrzehntelang verfolgten Ambitionen, mit einer deutschen Bombe den Finger an den amerikanischen Abzug zu legen, um die Sowjetunion zu Zugeständnissen in Sachen Wiedervereinigung zu bewegen und einige weitere Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges in Osteuropa zu revidieren. Diese Ergebnisse sind revidiert, und den Siegern von 45 Jahren Nachkrieg eröffnen sich mit dem Ende der Sowjetunion wahrscheinlich völlig neue Möglichkeiten.
Sinnlos geworden sind auch all die übrigen Bonner Ankoppel ungsanstrengungen in der Nato, die mit konventionellerMilitärpolitik den großen US-Knüppel deutschnational zu nutzen suchten. Die Jahrzehnte währende »Glaubwürdigkeitskrise« der US-Atomgarantie, die im Kern darin bestand, daß Washington im Ernsffall für die speziellen Interessen Bonns keinen atomaren Gegenschlag auf sein Territorium riskieren würde, ist kein Thema mehr: Deutschland ist vom schmalleibigen Frontstaat zur feisten Hegemonialmacht der EG geworden, die sich schneller als bisher angenommen nach Osten ausdehnen wird. Die baltischen Staaten und vermutlich noch weitere Teile aus dem Nachlaß des »Reichs des Bösen« werden in ein europäisches Haus einziehen wollen, dessen Hausmeister deutsch spricht. Obsolet ist schließlich auch der alte Kalte-Kriegs-Poker mit dem »zivilen« deutschen Atompotential.
Ist es Zufall, daß von dem geplanten Plutoniumdreieck Wackersdorf-Hanau-Kalkar, das zumindest in der Nukleardiplornatie ein respektabler Faktor gewesen wäre, riur ein gebeuteltes Atomdorf in Hanau und einige kleinere Außenposten übriggeblieben sind?
Die sensitiven Nukleargeschafte mit Argentinien, Brasilien, Indien, Indonesien, frak, kan, Israel, Pakistan, Südafrika, Südkorea, Taiwan, der Türkei usw. behalten ihren politischen Wert auch in einer imperialistischen One World, wenn auch in modifizierter Form. Im schönen Süden nämlich werden die Widersprüche zwischen großen und kleinen Räubern auch in Zukunft offener ausgetragen als in den nördlichen Hauptquartieren. Dabei lassen sich in der Vorbereitung profitträchtiger Konflikte eine Menge guter Geschäfte machen.
Die Resultate der bisherigen deutschen Dual-use-Politik können sich sehen lassen: Mindestens Indien, Israel und die deutschen Lieblingsrassisten in Südafrika sind auf solche Weise zu Atomwaffen gekommen; andere, wie Brasilien, sind - gebremst durch Wirtschaftskrisen und die Kontrollinteressen des Weltpolizisten - auf dem besten Weg dazu.
Daß der Weltpolizist seinen deutschen Freunden nicht blind vertraut, dürfte spätestens seit 1953 bekannt sein, als das erste illegale Brasiliengeschaft mit der Beschlagnahme von Göttinger Ultrazentrifugen platzte.5 Die Nukem-Urmutter Degussa mußte z.B. 1990 zur Kenntnis nehmen, daß auf die Beobachtung der Strafzettel folgt und eine Geldbuße von 800.000 $ an Washington zählen, weil sie von 1984-87 zum Bau von A- und H-Bomben geeignete Metalle an Nordkorea, Indien, die CSSR, Italien und Großbritannien geliefert hatte.
Politisch haben derartige Nuklearbeziehungen der BRD erheblichen Einfluß in wichtigen Regionalmächten und damit Konkurrenzvorteile gesichert, wenn sie auch bisweilen dem - von den USA formulierten - Gesamtinteresse des Westens widersprachen. Für deutsche Kapital-, Waren- und Rüstungsexporte war diese Atompolitik Türöffiier und Schutzschild zugleich. Sie verbesserte zudem die eigene Position bei den Kapitalverflechtungen zwischen den drei Großwirtschaftsräumen des Westens und hielt die deutsche Nähe zur Atomwaffenmacht stets auf Sprungbrettniveau.
Im Zusammenhang mit dem irakischen Atomprogramm forderte der Präsident des Washingtoner »Nuelear Control Institute«, Leventhäl, im Juli 91: »Die BRD muß ihren Wunsch nach der Wiedergewinnung von Plutonium aus verbrauchten Brennstäben aufgeben, wie auch die Japaner, Briten und Franzosen. Wenn es diese Materialien im kommerziellen Atomgeschäft nicht mehr gibt, schwindet auch das Risiko seiner Di-version in Atomwaffenprogramme.« Ob sich ausgerechnet die deutschen Nachkriegssieger von einem US-Institut bekehren lassen?
Zwar mußte Nukem nach der Skandalserie von 87/88 einen proliferationsverdächtigen Bereich einem alten Freund, der französischen CERCA, überlassen: die Produktion von hochangereicherten Uranbrennelementen. Andere Bereiche - wie sensitive Verfahrensentwicklungen - fielen in Hanau mit dem Aus für WAA und Brüter weg, das in der Bundesrepublik akkumulierte Knowhow hat sich natürlich nicht verflüchtigt. Im Zusammenhang mit solchem Knowhow, wie z.B. den vom KFK Karlsruhe und Nukem entwickelten und in Mol ausprobierten Verfahren zur Plutoniumextraktion aus mittelaktiven Abfällen, erhärtet sich die Proliferationsdimension »harmloser« Exporte7.
Auch der beachtliche Plutoniumschatz, den die Bundesregierung im Hanauer Bunker horten laßt, kann im Falle eines Falles für die Bombenproduktion genutzt werden. Es handelt sich immerhin um das größte Plutoniumlager in einem Nichtatomwaffenstaat -mit einem aktuellen Potential von 2,5 bis 3 Tonnen Plutonium. Der Münchner Chemie-Professors Armin Weiß erklärte dazu bei einer Pressekonferenz Mitte August 91 in Hanau, die Plutoniumwirtschaft mache nur einen Sinn, wenn sich Deutschland die Bombenoption offenhalten wolle. Weiß bezifferte die aktuelle Nähe zur Bombe mit 20 Tagen.
Doch nicht diese technologische Option soll im folgenden erörtert werden, sondern die politische Aktualität eines nationalen Wegs zur Atomwaffenmacht.
Der Verlauf dieser »Europäisierung der Sicherheitspolitik«, die im Ausbau derEurocop-Apparate ihr innenpolitisches Pendant findet, wird vermutlich darüber entscheiden, ob die BRD weiter auf zivilen Umwegen an die eigene Bombe heranschleicht oder einen direkten Zugang findet.
Obwohl Linke mit ihren Prognosen häufig daneben liegen, soll im folgenden versucht werden, thesenartig einige politische Bedingungen der Genesis einer neuen kontinentalen »Supermacht« in Beziehung zur deutschen Bombenoption zu setzen (wobei die Berücksichtigung widersprüchlicher Entwicklungen der notwendigen Verkürzung zum Opfer fiel).
Zwar ist jede historische Analogie problematisch, doch treten die innerimperialistischen Widersprüche, die im Kalten Krieg vom Systemkonflikt überlagert und gebändigt wurden, nach dessen Ende wieder deutlicher zutage (genau das hatte die Brügge-Gruppe gemeint). Und wer dachte nicht beim Hissen der altrussischen Fahne auf dem ZK-Gebäude der KPdSU an die Zeit vor 1917?
Der nun endgültig scheinende Sieg der »Ersten« über die »Zweite Welt« geschah durchaus mit Hilfe der Waffen. Nach dem Ausfall der deutschen Revolution, nach Interventions- und Weltkrieg gegen die So-wjetunion genügte die glaubhafte Drohung mit überlegener Militärtechnik, um den »Realsozialismus« immer tiefer in die Sackgasse des Wettrüstens zu steuern (wobei die hausgemachten Ursachen, wie die katastrophalen Folgen des Stalinismus und seiner Unterdrückungsexzesse, hier nicht diskutiert werden können). Zu Beginn der 80er Jahre war die Sowjetunion dann totgerüstet.
Deutsche Bombenfreunde machten in diesem Prozeß eine ermutigende
Erfährung:
Je schneller zivile Güter in militärische verwandelt werden
können, desto mehr wird zivile Überlegenheit selbst zu einem
Drohpotential militärischer Hegemoniepolitik. So wurde der »Atomwaffenstaat
auf Abruf« zu einer recht bequemen deutschen Position.
Atompotentiale im konventionellen Krieg
Der Golfkrieg hat nicht nur gezeigt, daß Kriege »mittlerer Intensität« sich für eine Großmacht wieder lohnen. Er hat auch geklärt, daß die für Millionen tödliche Ungerechtigkeit der heutigen Weltordnung, also das Gesamtinteresse des Westens, ohne eindeutig überlegenes Militärpotential nicht aufrechtzuerhalten ist. Die Herrschenden Europas mußten sich daher, teils gegen eigene Interessen in der innerimperialistischen Konkurrenz, der Führung der USA unterordnen. Die Bundesrepublik stellte im Ölkrieg ihre Eignung als Militärbasis unter Beweis und akzeptierte die westliche Arbeitsteilung: sie ist ökonomisch überlegen, die USA sind es militärisch. (Die Arbeitsteilung ist auch Konsequenz des ökonomischen Niedergangs derUSA: Sie können das Weltwirtschaftssystem nicht mehr alleine »sichern«. Noch viel weniger könnte es eine atomar gerüstete Bundesrepublik allein.)
Im Golfkrieg wurde deutlich, daß ein »Mid Intensity Conflict« ohne ernstzunehmende Atomwaffendrohung zu einer haarigen Angelegenheit für die Herren der Welt werden kann. Die USA erklärten den Ungläubigen später selbst, daß ihre auf Kriegsschiffen im Golf stationierten taktischen Atomraketen Saddam Hussein daran hinderten, ernsthaft den Einsatz von Giftgas zu erwägen.
Es ist nun fast doppelt so groß wie das von USA und Japan zusammengenommen, wo-bei 60% der Exporte innerhalb der EG abgewickelt werden. Auch die Kapitalexporte der BRD wurden 1990 verstärkt in EG-Staaten umgeleitet, wo inzwischen fast 90% der deutschen Auslandsinvestitionen getätigt werden.
Das Ende der Sowjetunion verstärkt die Vorherrschaft Deutschlands in Europa beträchtlich. Kaum war die KPdSU in Rußland verboten, da belehrte Genscher die westeuropäischen Nachbarn in aller Öffentlichkeit, daß die EG Europäische Gemeinschaft heißt und nicht Westeuropäische Ge-meinschaft. Noch bevor Bonn wieder Berlin wird, will es offenbar die Früchte seiner Ostpolitik »selbstbestimmt« ernten.
Das Aushängen der Wohnungstüren im europäischen Haus scheint für dieproduzierenden Euro-Konzerne zugleich eine notwendige Ausgangsbasis dafür zu werden, auch in den beiden anderen Großwirtschaftsräumen führende Positionen zu erobern bzw. mit dortigen Markt-führern zu kooperieren. Gleichzeitig wird die Entwicklung neuer Technologien bereits heute so kapitalintensiv, daß sie zunehmend Kooperationen auf Weltebene erfordert - siehe z.B. die gemeinsamen Projekte von »Erzfeinden« wie Siemens und IBM bei der Chip-Entwicklung, oder von Daimler-Benz und Mitsubishi in der Auto- und Raumfahrtindustrie. Die Ebene der Finanzmärkte soll hier aus Platzgründen nicht betrachtet werden, ihre Internationalisierung ist schon längst viel weiter fortgeschritten. So betragen die internationalen Finanztransaktionen das 25fache der Weltwarenströme.) In den wesentlichen Sektoren erfolgt die Ablösung der Nationalökonomie durch die Weltökonomie. Darauf besteht auch der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Kaske: »Wir sind ein Weltunternehmen.«
Der eigenständige Aufbau einer nationalen deutschen Atomstreitmacht erscheint vor dem Hintergrund der ökonomischen und politischen Europäisierung als Anachronis-mus. Wenn Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion trotz aller alten und neuen Widersprüche zu einem EG-Staat ausgebaut werden können, und dafür spricht vieles, steht auch die Integration der militärischen Potentiale auf der Tagesordnung. Ob dies innerhalb weniger Jahre vollendet werden kann oder etwas länger dauert, ist nur spekulativ zu beantworten. Der Zerfall der Sowjetunion hat gezeigt, wie schnell weltpolitische Umbrüche vonstatten gehen können.
Die Herausbildung einer politischen Zentralgewalt auf europäischer Ebene wird parallel zu den EG-Institutionen durch den Ausbau der KSZE-Strukturen, der Bonn bekanntlich besonders am Herzen liegt, begleitet. Die WEU-Eingreiftruppen könnten in diesem Szenario zur Keimform einer gemeinsamen Streitmacht avancieren, weil sie die europäische Einigung gegenüber dem neuen Hauptfeind, dem Reich der Habenichtse, ausdrücken. Eine umfassende politische Einigung Europas würde auch die Nuklearstreitkräfte umfassen. Damit würde
Deutschland als europäische Führungsmacht auf direktem Wege zu Atomwaffen bzw. zur »nuklearen Teilhabe« kommen. Aber es wäre dann auch nicht mehr Deutschland im heutigen Sinne, sondern eher hege-monialer Teil des neuen Europa.8
Bei der Konferenz »Atombomben made in Germany?« im September 1985 wurde eine europäische Einigung mit der Qualität EG-Staat als nicht aktuell eingestuft. Daher wurde den damaligen Diskussionen um eine integrierte europäische Nuklearstreitmacht nur die symbolische Funktion des Tabubre-chers zugunsten einer deutschen Bombe zugebilligt. Aber damals war die Welt noch eine andere.
Auch für diese Aufgaben ist eine besondere deutsche Nuklearstreitmacht vorerst nicht von sonderlichem Interesse, da die Arbeitsteiligkeit das vorhandene atomare Drohpotential beinhaltet und die »Eingriffe« im Süden aufgrund der Schärfe der Widersprüche real durchgefochten werden müssen. Aktuell viel wichtiger für die Bundeswehr ist daher ihre technologische und personelle Umstellung auf Einsätze in ungewohnter Wildnis.
Auch in der übrigen EG zeichnen sich bereits vor Installierung des Binnenmarktes die Grenzen des kapitalistischen Wachstums ab. Der soziale Frieden scheint europaweit bedroht. Kurz: Die wachsenden ökonomischen und innenpolitischen Probleme werden das teutonische Bombeninteresse dämpfen, vor allem in dem Fall, daß größere soziale Kämpfe die Herrschenden auf andere Gedanken bringen sollten.
Dennoch muß bei der Atombewaffnung der Deutschen nicht alles mitrechten Dingen zugehen, wie ein Blick in die Geschichte lehrt. Selbst wenn eine umfassende Interessenanalyse ergäbe, daß mehr gegen eine nationale Nuklearstreitmacht als dafür spricht, daß sie durch eine politisch-militärische Integration Europas ersetzbar und ihre Finanzierbarkeit außer Reichweite ist, heißt dies nicht endgültig, daß das Pack an der Macht auf eine standesgemäße Ausstattung verzichtet. Schließlich sind auch rationale Szenarien mit »Bombeneffekt« denkbar. Zum Beispiel, daß das ehrgeizige Projekt EG-Staat scheitert oder in eine tiefe Krise gerät, vielleicht, weil der deutsche Machtzuwachs im Osten zu neuen innereuropäischen Konflikten führt. Paris hat trotz der deutsch-französischen Achse keineswegs auf die Modernisierung seiner nach Osten gerichteten Kurzstreckenraketen, die nur Deutschland treffen können, verzichtet. Diese Einführung der Hades-Rakete ab 1. September hat zu einem Aufschrei unter bundesdeutschen Militärpolitikern geführt. Gleichzeitig lagern noch 4000 nukleare Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von zumeist 30 km auf dem Gebiet der BRD, die meisten davon gehören den USA: eine Art atomare Versicherung Washingtons gegenüber allzu hochfliegenden deutschen Plänen?
Weil eine deutsche Bombenoption letztlich unter widrigen Umständen
durch nichts zu ersetzen ist, werden die Herren des deutschen Kerns die
Bereithaltung bombenfähigen Materials und die Weiterentwicklung entsprechender
Technologien nicht auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Und in
Hanau wird der Plutoniumbunker noch lange
nicht abgetragen.
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