neue hanauer zeitung Nr. 72, Mai/Juni 1992

Dioxin über Hanau

Eine unendliche Geschichte

von Prof. Dr. Elmar Schlich
Die Nachricht, die - nimmt man's genau - an sich keine sein dürfte, lautet: die Hanauer Dioxin-Verursacher sind bekannt. Nicht nur der nhz sind sie bekannt. Nein, auch die Stadtverwaltung, führende Politiker, die Meßtechniker, die Gewerbeaufsicht und vor allem: die Emittenten wissen es längst.

Doch der Reihe nach: die Geschichte ist unendlich und beginnt im Grunde schon 1956. Bereits damals konnte an der Universität Hamburg nachgewiesen werden, daß bei der Verbrennung von Chlorbenzol chlo-rierte Dioxine1 entstehen. Ein nüchternes Zitat aus einem 1974 erschienenen Bericht2:
»Kurze Zeit danach wurdejener Chemotechniker, der mit den experimentellen Arbeiten befaßt war, von einer starken Hauterkrankung (Furunkel, Pusteln, Taigretentionszysten) befallen, ohne daß zunächst die Ursache erkannt wurde. Der Kranke wurde in der Universitäts-Hautklinik Hamburg-Eppendorf behandelt. Der Zufall wollte es, daß dort mehrere Arbeiter eines Herbizid-Betriebes3 mit einer ähnlichen Dermatitis behandelt wurden, ohne daß man zunächst die Ursache dieser Berufskrankheit erkannt hatte.«

Sie wissen genau, was sie tun

Man untersuchte alle Verbindungen, mit denen der Chemotechniker gearbeitet hatte und fand als Ausgangsstoffe neben anderen Chlorverbindungen auch Chiorbenzol. Ursache der Krankheit aber war Tetrachlordibenzodioxin (TCDD), das bei der thermischen Behandlung der genannten Ausgangs-stoffe entstand. In einer Übersicht über chemische Kampfwaffen aus dem Jahre 1973 wird dieser Stoff als »one of the most poisonous synthetic chemicals known to man« bezeichnet.4

Ein Sprung aus dem Jahre 1956 in das Jahr 1983: sieben Jahre nach der Seveso-Katastrophe5 veröffentlicht das Umweltbundesamt UBA) seinen Bericht: »Sachstand Dioxine - im UBA bis April 1983 verfügbares Wissen«. Spätestens seither gilt es als gesichertes Wissen, daß aus chlorierten Benzolen und allen anderen chlorierten organischen Stoffen bei thermischer Behand-lung die verschiedensten chlorierten Dioxine entstehen. Dies weiß die Gewerbeaufsicht, dies weiß die Genehmigungsbehörde. Niemand -vor allem niemand aus der Chlorchemie - kann sich rausreden, gemaß dem Motto: Verschont uns, denn wir wissen nicht, was wir tun!
Sie wissen es ganz genau.

»Der Oberbürgermeister ist nicht besorgt«

Im Sommer 1991 schlug der BUND in einer Pressekonferenz in Hanau Alarm. Die Hanauer Meßstelle auf dem Hof der Stadtwerke maß seit Jahren den höchsten Dioxinwert in Hessen. In Folge geisterten verschiedene Meldungen durch die Presse, die unverändert hohe Dioxinkonzentrationen in der Hanauer Luft nannten. Der Hanauer Anzeiger teilte am 30.7.91 mit, daß Stadtbaurat Dressler auf das Krematorium als Verursacher tippe, da die Särge aus »behandelten Hölzern« geschreinert würden. Die Friedhofssatzung müsse geändert werden. Die FAZ hingegen titelte einen Tag später: »Der Oberbürgermeister ist nicht besorgt« (FAZ, 1.8.1991).

Die Ruhe im Blätterwald trat wieder ein, nachdem Hans Martin bekanntgeben ließ, daß bei sechs möglichen Emittenten in Hanau erstmal gemessen werden müßte, und dann sei auszuwerten, und schließlich umzurechnen, bevor überhaupt eine Aussage über Verursacher oder sonst etwas möglich sei.

Wieviel Gewerbesteuer ist das Dioxin wert?

Nur der BUND und Robin Wood ließen nicht locker, setzten sich hin und rechneten und verglichen. Aber ohne Unterstützung der Stadt und der Genehmigungsbehörden war nicht weiterzukommen. Die jedoch weigerten sich strikt, die sechs Meßstellen zu nennen. Sie weigerten sich auch, die Gründe für die Auswahl eben dieser sechs Meßstellen mitzuteilen. Man kann sich denken, warum! Denn dann hätte man ja auch der Öffentlichkeit mitteilen müssen, welche Chlorverbindungen dort wie behandelt werden, hätte auch zugeben müssen, daß es sich um genehmigte und deshalb detailliert bekannte Anlagen handelt, hätte eingestehen müssen, daß man längst schon aufgrund der eigenen Sachkenntnis hätte handeln müssen.

Der nhz liegen jetzt aufgrund einer gezielten Indiskretion die Meßstellen vor. Und nicht nur die Meßstellen, auch die Ergebnisse sind im Kern bekannt.

Ein Zitat aus dem mir in dieser Sache zugegangenen Fax:
»In Ergänzung meiner fernündlichen Ausführungen möchte ich noch die Firmen nennen, bei denen vertiefende Dioxin-Messungen von der HLfU und dem GAA durchgefllhrt wurden:

Ich hoffe, Ihnen mit dieser Auskunft gedient zu haben.«

Giftmüllentsorgung auf dem Friedhof

Nach der vorliegenden Information zeigen von den sechs Meßstellen die am Krematorium und bei der W.C. Heraeus Holding die höchsten Werte.

Verursacher Nummer 1: das Krematorium. Hier schließt sich der Kreis zu den eingangs erwähnten Meßreihen 1956 in Hamburg - der Grund sei die Beigabe eines sogenannten Sargstreumittels, das angeblich aus hygienischen Gründen gleich beutelwei-se in die Särge gepackt wird: Paradichlorbenzol. Das Gift wird durch Chlorierung von Benzol hergestellt und wurde in der Vergangenheit als »Pinkelsteine« ins Urinal oder die Kloschüssel gegeben, bis Umweltschützer und Kläranlagenbetreiber protestierten. Seither ging der Umsatz rapide zurück, ein Grund für die Chlorchemie, über weitere Verwendun~smö~lichkeiten  nachzudenken, da produzierte Lagerbestände ja irgendwie entsorgt werden müssen. Die Verwendung als Sargstreumittel führt zu Dioxinbildung in Krematorien und zur Verseuchung des Bodens auf dem Friedhof.

Rainer Grieshammer, Wissenschaftler am Öko-Institut und Sachverständiger der Chemie-Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, zu diesem Thema am 28.04.1992 in der Frankfurter Rundschau (Seite 6): »Produkte sind die größte Emission der Industrie, seien es Windeln oder das der stillen Giftmüllentsorgung dienende Sargstreumittel Paradichlorbenzol.
Wie gesagt: seit 1956 ist nachgewiesen, daß die Verbrennung von Chlorbenzolen massive Freisetzung von chlorierten Dioxinen hervorruft. Dem Vernehmen nach denkt die Stadt Hanau 1992 an den Einbau eines Dioxin-Filters ins Krematorium. Mein Informant hierzu mit Bitterkeit: »Früher hat man Zwiebeln in die Särge getan!« Was im Klartext heißt, kein Sargstreumittel zu verwenden.

W. C. Heraeus: Seit Jahren wieviel Dioxin?

Verursacher Nummer 2 - so die vorliegende Information - sei eine thermisch/chemische Aufarbeitungsanlage für Halbleiter, die bei W.C. Heraeus betrieben würde. Genaueres wisse die Gewerbeaufsicht. Eine Nachfrage beim Gewerbeaufsichtsamt brachte allerdings nichts ein.

Wie auch immer, es wird Zeit, daß die Dioxin-Emittenten zusammen mit den Meßergebnissen der Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Die Stadt steht in der Verantwortung. Die Meßreihen sind lange abgeschlossen, die Auswertung liegt vor, es werden in der Verwaltung bereits Maßnahmen diskutiert, wie etwa der Einbau von Filtern ins Krematorium. Doch damit ist es nicht getan, weil dann wieder Monate, wenn nicht Jahre ins Land gehen, bis die Filter eingebaut und neue Meßreihen erstellt werden. Doch das Dioxin wartet nicht. Es konzentriert sich über Jahre hinweg im Fettgewebe der Tiere und Menschen. Die Dioxin-Werte in der Muttermilch steigen. Dioxin hat keimschädigende Wirkung. Dioxin führt zu Hauterkrankungen. Dioxin schwächt das Immunsystem. Es bewirkt Unfruchtbarkeit über eine Atrophie samenleitender Kanäle im Hoden. Es gibt degenerative Veränderungen an der Leber, bis hin zu Leberkrebs. Es wirkt toxisch, vor allem auf Embryonen. Es verursacht Mißbildungen. Diese Aufzählung ist unvollständig.

Eigentlich ein Fall für die Gerichte

Eine eindeutige Sprache, die die Verwaltungsjuristen verstehen, spricht das Chemikaliengesetz (ChemG). In §17, Abs.1 Nr.2 ist ein Verbot jeglicher, nicht nur gewerbsmäßiger Herstellungs- oder Verwendungsverfahren ausgesprochen, bei denen PCDD6 entstehen oder frei werden können.

Danach ist die Verwendung von Pinkelsteinen als Sargstreumittel mit nachfolgender Verbrennung gesetzlich untersagt.

Das Umweltbundesamt zieht bereits 1983 folgendes Fazit:

»Das bestehende rechtliche Instrumentarium, insbesondere die vielfältigen Regelungsmöglichkeiten durch Rechtsverordnung(en) nach § 17 ChemG, sollte für einen weitgehend flächendeckenden Schutz vor den Gefahren der PCDD ausreichend sein.«

Die Leserin und der Leser können ihre eigenen Schlüsse ziehen; mir wird schlecht, wahrend ich dies schreibe.



Anmerkungen:
1 siehe Kasten »Was ist Dioxin?«
2 Sandermann, W.: Naturwissenschaften 61, S.207 (1974)
3 Anmerkung des Autors: wahrscheinlich Firrna Boehringer Hamburg
4 (»einer der giftigsten chemsichen Stoffe, die die Menschheit kennt«); Neilands, J. B.: Naturwissenschaften 60, 
   S. 177 (1973)

5 Seveso-Katastrophe: In Seveso (Italien) traten wegen eines Unfalls in einer Chemiefabrik 134 Gramm Dioxin in die Umgebung aus, was zur Umweltkatastrophe führte.

Zurück zur Homepage  ÖkoBüro Hanau

Zurück zur Übersicht Lokale Infos zur Ökologie