neue hanauer zeitung Nr. 77, Mai 1993 

Bonn und die Bombe

Deutsche Atomwaffenpolitik, ihre Geschäfte und Konsequenzen

Die Plutoniumverarbeitung in Hanau könnte wieder Thema sein: Die geplanten Plutoniumtransportflüge, das am 8. April gefällte Schadenersatzurteil zugunsten der Firma Siemens, die Explosion in der sibirischen Plutoniumfabrik Tomsk-7, die für den 24. April organisierte Anti-Atom-Demo... Es gäbe so vieles, was Herzen und Köpfe aufwühlen könnte,. doch nach 15 Jahren kontinuierlicher Anti-Atom-Arbeit hält sich die Erregung in Grenzen.

Nur die bis auf den Kern zusammenge-schmolzenen  Anti-Atom-Grüppchen wie IUH oder Kettenreaktion und Einzelkämpfer in BUND oder BBU melden noch Wider-spruch gegen den neuen Atomkonsens an, der von der Energiewirtschaft derzeit mit der Kohl-Regierung in überparlamentarischen Zirkeln ausgekungelt wird (die nächsten Bonner Atonirunden sind am 3. und 27. Mai und am 30. Juni). Daß laut Emnid nur noch eine kleine unverbesserliche Minderheit von 5 % der Bevölkerung für den Neubau von Atomkraftwerken ist, stört die Herren der Keruspaltung wenig. Sie wollen vor der Bundestagswahl 1994 Garantien für die Atomwirtschaft im 21. Jahrhundert, Siemens will seine Plutoniumverarbeitung in Hanau langfristig absichern.

Im März hat Südafrika hochoffiziell eingestanden, sechs Atombomben gebaut zu haben, die inzwischen wieder vernichtet worden sein sollen. Präsident de Klerk bestätigte damit erstmals, was Atomgegner seit Anfang der 80er Jahre angeprangert hatten. Doch nun folgen keine weiteren öffentlichen Diskussionen, etwa über deutsche Nuklearbeziehungen zum Apartheidstaat am Kap - die Bombe, na und?

Ebenfalls im März gab es eine Fortsetzung des 1990 noch Wellen schlagenden NTG-Prozesses. Ein Ingenieur der früheren Gelnhausener Atornklitsche, der an der illegalen Lieferung von radioaktivem Tritium-Gas an Pakistan beteiligt war, kam niit einer Geldbuße davon. Sein Ex-Chef, der derzeit seine fünfjährige Gefängnisstrafe verbüßt, entlastete den Mann mit der Aussage, daß man bis 1986 bei der NTG nicht gewußt habe, daß Pakistan das Tritium für den Bau von Atombomben benötigte: »Wir waren blauäugig ohne Ende.«

»Blauäugig ohne Ende« - das scheinen viele Zeitgenossen auch zu sein, wenn es um deutsche Atomwaffenpolitik geht. Zwar ist dieses Thema von der Anti-Atom-Bewegung seit Ende der 70er Jahre immer wieder in Artikeln, Broschüren, Flugblättern und Kundgeburigsreden aufgegriffen worden, doch gleichzeitig mußte die Erfahrung gemacht werden, daß die Brisanz dieser Frage verdrängt wurde. Nicht erst seit dem Awacs-Beschluß stehen wir vor einem neuen Eskalationspunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte:  Der Vorbereitung weltweiter Kampfeinsätze der Bundeswehr.

In dieser Situation mag es nützlich sein, sich der teilweise ungeschminkten Atomwaffenpolitik früherer Bundesregierungen zu erinnern. Das Thema wurde wiederholt in Anti-Atom-Zeitschriften (auch in der nhz) behandelt, doch mit dem Buch von Matthias Küntzel »Bonn und die Bombe« liegt seit einigen Monaten die erste umfassende wie detaillierte Hintergrundanalyse deutscher Atomwaffenpolitik vor, die sich auf eine solide und gut dokumentierte Quellensubstanz stützt.

Küntzel erinnert eingangs an eine gern verdrängte Kontinuität deutscher Militärpolitik: Bereits 1948 forderte der ehemalige Wehrmachtsgeneral Hans Speidel in einer Denkschrift die Gleichbehandlung der künftigen deutschen Armee hinsichtlich Waffenbesitz und -produktion. Adenauer machte diesen fähigen Mann dann 1951 zum Chef-delegierten für die Verhandlungen über eine Europäische  Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Erst auf heftigen Druck von Frankreich, den USA und Großbritannien gab Adenauer 1952 nach und unterzeichnete einen Atomwaffenverzicht. Dieser beinhaltete u.a. - und das ist interessant daran - den Verzicht auf Einfuhr oder Herstellung von mehr als 500 Gramm (!) Plutonium pro Jahr sowie auf den Bau oder Besitz von Reaktoren mit einer Wärmeleistung von mehr als 1,5 Megawatt (!), da ab dieser Größenordnung über 500 Gramm Plutonium jährlich anfallen würden. Das Reaktorplutonium war also schon damals eine Hauptsorge der westlichen Siegermächte.  Der EVG-Vertrag scheiterte im französischen Parlament.

Gewicht der BRD bereits soweit gewachsen, daß der dann im Rahmen der Pariser Verträ-ge unterzeichnete Atomwaffenverzicht die obengenannten (und weitere) Verbote nicht mehr enthielt, sondern nur noch die Verpflichtung für die BRD, A-, B- und C-Waffen »in ihrem Gebiet nicht herzustellen«.

Ungeachtet dessen trieb die Adenauer-Regierung mit ihrem Verteidigungs- bzw. Atomminister F. J. Strauß, so belegt Küntzel eingehend, die Atomwaffenoption ungerührt voran. Ein Hindernis war der innenpolitische Widerstand gegen eine Atombewaffnung der Bundeswehr. Der »Göttinger Appell« der führenden deutschen Atomforscher vom 12.4. 1957 markierte dabei einen Einschnitt: Die Wissenschaftler erklärten darin, sich keinesfalls »an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Form zu beteiligen«. Danach begann das erste Umsteuern auf jene Linie der Atompolitik, mit der wir uns heute noch herumschla-gen müssen: ein ziviles Atomprogramm, das so komplex und diffus ist, daß damit die Einzelkomponenten für den Atomwaffenbau stets mitentwickelt werden.

Küntzel stellt in den folgenden Kapiteln in chronologischer Form die weitere Ent-wicklung der deutschen Atompolitik dar. Wieviel davon dem Blick der Öffentlichkeit entzogen wurde, mag das römische Geheim-abkommen vom Frühjahr 1958 zeigen, in dem F. J. Strauß mit seinen französischen und italienischen Kollegen die gemeinsame Herstellung von Atomsprengköpfen verein-bart hatte. Dieses Abkommen, dessen Existenz Strauß damals dementierte, wurde erst nacb seinem Tod, im Sommer 1989, durch die Strauß-Memoiren der deutschen Öffentlichkeit bekannt. Die Vereinbarung bestand allerdings nur wenige Monate: Sie wurde von de Gaulle bei seinem Amtsantritt am 1. Juni 1958 annulliert.

Nach einem Abriß der Nichtweiterverbreitungs-Interessen der beiden Weltmächte kommt Küntzel zum Hauptteil seiner Arbeit:
Die Entstehung des Atomwaffensperrvertrags von der deutsch-amerikanischen Nuklearkontroverse Anfang der 60er Jahre über die nukleare Programmatik der deutschen Parteien und die jahrelange Kontroverse um den Vertrag bis zu seiner endlichen Ratifizierung durch den eigentlichen Adressaten, den Deutschen Bundestag im Jahre 1974. Es war die Bundesrepublik, die eine erhebliche Abschwächung der Kontrollen und die Liberalisierung des Atomhandels durchsetzte.

Zu den wichtigen Erkenntnissen, die Küntzels Arbeit belegt, gehört der Nachweis, daß in der Bundesrepublik eine nichtöffentliche Ebene der Atompolitik existiert, diejeder öffentlichen Kontrolle entzogen ist. Teilbelege und Indizien für diese »ebenso parteiübergreifend und vertraulich agierende nudear cornmunity'« wurden bereits in etlichen Blättern (seit 1984 auch in der nhz) publiziert, von vielen aber als »Verschwörungstheorie« abgetan. Ihnen sei die Lektüre des Küntzel-Buchs ans Herz gelegt.
Küntzel zeigt auf, daß die deutschen Nuklear-Ambitionen, zumindest ein Atomwaffenstaat auf Abruf zu sein, auch heute noch existieren. Ein Beispiel ist der Zwei-plus-vier-Vertrag über die deutsche Einigung: Dort wird der deutsche Verzicht auf ABC-Waffen in Artikel III festgeschrieben. Dieser Verzicht sollte durch das Adjektiv »immerwährend« eine zeitlose Qualität erhalten, in der Schlußfassung des Vertrags findet sich jedoch dieser Zusatz nicht mehr. In den Vorverhandlungen zu diesem Vertrag hatte die DDR-Delegation darauf gedrungen, den ABC-Verzicht in der Verfassung des vereinten Deutschlands festzuschreiben (und damit eine Grünen-Forderung aus dem Jahre 1987 übernommen). Dieser Vorstoß blieb vergeblich. Ebenso vergeblich wie weitere DDR-Vorschläge, etwa das Verbot der Atomwaffenforschung oder die Atomwaffenfreiheit Gesamtdeutschlands festzulegen. Damit bleibt es bei der bisherigen Situation: »Der Nuklearverzicht für Gesamtdeutschland ist ebensowenig wasserdicht wie die bisherigen Verzichtserklärungen der BRD.«

Küntzel geht auch auf die weltpolitische Bedeutung der künftigen Nuklearpolitik des vereinigten Deutschlands ein. Er folgert u.a.: »Jede Aufwertung der nuklearen Option,jede Begünstigung des atomaren Aufrüstung im westeuropäischen Kontext, jede Verringerung des eigenen Abstands zur Bombe bedeutet nicht nur eine Bedrohung für andere, sondern wird auf globaler Ebene von einem vielstimmigen Echo ähnlich gelagerter Bestrebungen beantwortet werden.«

In seiner fünfjährigen Recherche für das Buch hat der Autor u. a. in Washington und Moskau, London und Paris vertrauliche Unterlagen einsehen können und Akteure befragt. Eine wesentliche Erkenntnis daraus ist, »daß die westdeutsche Politik der 60er Jahre maßgeblich dazu beigetragen hat, das faktische Entstehen neuer Atommächte unter dem Deckmantel des Sperrvertrags zu befördern«. Heute werde die Saat jener Politik geerntet: »Die atomare Abschreckung hat als atomare Ansteckung Folgen gezeitigt und das Tempo der nuklearen Weiterverbreitung potenziert. Die Auflösung der Sowjetunion hat auch in Europa neue Atommächte in den Bereich des Möglichen gerückt und Bombenaspiranten in aller Welt einen neuen nuklearen Supermarkt beschert.«
E. Stickler

Matthias Küntzel: Bonn und die Bombe - deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt; Frankfurt/M.-New York, Campus Verlag 1992; 333 S., 48,- DM; ISBN 3-593-34654-0.



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