Kühnl warnte vor »einer Regierung, die ständig von weltweiter Verantwortung spricht und immer nur Schnelle Eingreiftruppen meint«. Er erinnerte an die offensiven Optionen, die die neuen Bundeswehr-Richtlinien zur militärischen Sicherung »nationaler Interessen« beinhalten und daran, wieviele außenpolitische Beschränkungen die Bundesrepublik im vergangenen Jahr abwerfen konnte. Auch in der internationalen Kapitalverflechtung mochte Kühnl kein Hindernis für neue nationale Machtpolitik sehen, da schließlich jeder Konzern staatliche Machtmittel sowohl in der Innenpolitik wie in Krisensituationen im internationalen Konkurrenzkampf benötige. An die Gewerkschaften appellierte Kühnl, den Kampf um die Bändigung eines neuen deutschen Militarismus zu organisieren. Jetzt sei noch Zeit dazu, meinte er, da sich viele Menschen engagieren würden, wenn sie wüßten, was auf sie zukommt und wo sie anpacken können.
Die sehr magere Beteiligung an den diesjährigen Ostermärschen, die sich auch in der Region die Militarisierung der deut-schen Außenpolitik vorknöpften, spricht eher dagegen. Ursachen? Neben dem Niedergang sämtlicher oppositioneller Bewegungen in Deutschland ist gewiß auch die ritualisierte Langeweile der Ostermärsche zu nennen, aber genauso das Problem, daß es hierzulande schon seit Jahrzehnten sehr schwierig ist, politischen Widerstand gegen deutsches Militär auf die Beine zu bringen. Für den Kühnlschen Optimismus, daß es in Deutschland ein antimilitaristisch ansprechbares, schlummerndes Potential gebe, spricht als einziges Indiz die wachsende Zahl von Kriegsdienstverweigerern.
Auch bei einer Diskussionsveranstaltung der Hanauer AG Radikale Linke, eine Woche nach der Kühnl-Veranstaltung, war von diesem Potential nichts zu sehen. Die Titelfrage eines ausführlich argumentierenden Flugblatts, ob 50 Jahre nach der Zerstörung Hanaus deutsche Soldaten wieder an die Front geschickt werden, lockte fast niemanden hinter dem Ofen hervor. Grund genug, im folgenden etwas ausführlicher über die Thesen des aus Hamburg angereisten Referenten Matthias Küntzel zu berichten.
Die inhaltliche Ausrichtung der offiziellen Gedenkfeiern, so Küntzel, mache zwei Punkte sehr deutlich:
Küntzel vertrat die These, daß in der neuen deutschen
Außenpolitik Elemente der Wiederholung, der Kontinuität, inhaltlich
und methodisch klar erkennbar seien: Zum Beispiel das völkische Prinzip
mit seinem Blutsinythos und die deutsche Erfindung „Geopolitik".
Das völkische Prinzip als wichtige Grundlage des NS-Rassenimperialismus habe den Bruch von 1945 faktisch unversehrt überstanden, wie der Grundgesetz-Artikel 116 zeige, der das Deutschtum durch Blutszugehörigkeit definiert. Nicht einmal die SPD stelle diesen Artikel in Frage. Das völkische Prinzip ermögliche es, daß »Blutsdeutsche« in Osteuropa, die vor 300 Jahren ausgewandert sind, weiterhin als Deutsche definiert werden. Die Abschaffung des Blutsprinzips würde aus ihnen schlagartig Polen, Russen, Tschechen usw. machen. Mit den völkisch definierten »deutschen Minderheiten« aber könnten osteuropäische Regierungen unter Druck gesetzt werden. Man stelle sich nur vor, was passiere, wenn im Rahmen einer Krise plötzlich in den schlesischen Teilen Polens der Ruf erschalle: »Wir sind ein Volk«.
Die deutsche Strategie der Geopolitik, vor 100 Jahren entwickelt, behaupte, daß die geografische Situation eines Landes die Basis seiner Außenpolitik sei. Da die Geografie eine unveränderliche Größe ist, bedeute die Wiederkehr des geopolitischen Ansatzes seit 1990, daß Deutschland zu einer Politik zurückkehre, die angeblich »schicksalhaft« seiner Geografle »eingeschrieben« sei. So sage etwa Kinkel: »Politik ist Geografle« und »wir sind aus der Randlage am Eisernen Vorhang wieder in die Mitte gerückt«. Aus dem Mythos der »deutschen Mittellage« werde entweder eine besondere Bedrohtheit (Einkreisungsangst) oder eine besondere Mission (Deutschland als Einiger Europas) konstruiert.
»In jedem Fall wird daraus eine Sonderrolle konstruiert, die die Geschäftsinteressen dieses Landes ideologisch verbrämt, denn wo von Schicksal und Erdbezogenheit die Rede ist, geht es eigentlich um Ausplünderung der Länder Ost- und Mitteleuropas durch das deutsche Kapital.« Mit dieser »germanisierten Ausbeutungsregion« solle die Basis für eine neue globale Machtpolitik Deutschlands erweitert werden.
So behaupte etwa Edmund Stoiber, das Münchner Abkommen von 1938,
mit dem die Abtretung tschechischer sudetendeutscher Gebiete an das Deutsche
Reich erzwungen wurde, sei »rechtswirksam« zustandegekommen.
Der Streit um diese Anmaßung habe alle Verhandlungen zwischen Prag
und Bonn bestimmt - übrigens schon 1973. Auch die sozialliberale Koalition
habe damals die Position eingenommen, daß das Münchner Abkommen
nicht von Anfang an für ungültig erklärt werden dürfe.
Entscheidend dabei: Nur aufgrund dieses Abkommens wurden die Sudetendeutschen
zu deutschen Staatsbürgern erklärt.
Es gebe auch eine völkische Europa-Definition, so Küntzel
weiter, die eine neu-deutsche Chiffre für »germanische Welt«
meine. Etwa, wenn Theo Waigel fordere, Prag müsse hinsichtlich der
»sudetendeut-schen Rechtsansprüche« die »europäische
Hausordnung akzeptieren«, bevor Bonn sich für eine EU-Mitgliedschaft
stark ma-chen könne.
Dies gelte auch für die EU. Deutschland wolle offenkundig in vielen Punkten über die EU Großmachtpolitik betreiben und sich mithilfe der EU in der Konkurrenz mit Japan und USA durchsetzen. Dies habe etwa das berüchtigte Schäuble-Papier kurz vor der Bundestagswahl gezeigt, das in allen großen europäischen Zeitungen als unverschämt bezeichnet worden sei. Schäuble hatte die Möglichkeit der Spaltung der EU angedeutet, falls die von Deutschland gewünschte Osterweiterung nicht zustandekomme:
»Ohne eine solche Weiterentwicklung der westeuropäischen Integration könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherbeitsinteressen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa allein und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen.«
Küntzel: »Diesen Tonfall hätte man sich vor 89 nicht vorstellen können.« Er dokumentiere eine langsame Verschiebung der Kräfteverhältnisse und eine Tendenz zur Renationalisierung. Die Glaubwürdigkeit eines solchen »Erpressungsansatzes« stehe und falle jedoch mit dem militärischen Potential.
Hierzu wurde in der Diskussion eingewandt, daß es zugleich ein sehr starkes Interesse des deutschen Kapitals an der Erhaltung der EU als ökonomischem Faktor, als Binnenmarkt, gebe. Immerhin werden etwa 70% der deutschen Exporte im europäischen Binnenmarkt verkauft. Wenn Osterweiterung und EU einmal alternativ stünden, werde Deutschland kaum die EU als Ganzes aufs Spiel setzen. Zudem, so ein Diskutant, sehe er keinen »absoluten« Gegensatz zwischen Renationalisierung und wirtschaftlicher Integration, da global betrachtet die Bedeutung von Wirtschaftsblöcken wachse. Es handele sich eher um zwei gegenläufige Tendenzen, die nicht voneinander getrennt werden könnten. Diesem letzten Teil des Einwandes stimmte Küntzel zu, der jedoch betonte, daß sich das Motiv der Integration verändere. Außerdem gebe es Fälle, wo sich die Politik über die Wirtschaft erhebe, wie beispielsweise der Verlauf der Wiedervereinigung gezeigt habe.
So habe es auch in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ, seit dem EU-Vertrag »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«, GASP) Debatten um das Hanauer Plutoniumlager gegeben. Frankreich hatte sich geweigert, Plutonium aus La Hague nach Hanau zu bringen, weil hier keine Weiterverarbeitung passiere. (Der deutsche Weiterverarbeitungsnachweis sind die Mox-Brennelemente.)
Ende 1994 hatte die US-Regierung ihre (hochrangige) Unterstaatssekretärin für Ab-rüstungsfragen nach Bonn geschickt, um Verhandlungen über die Plutoniumpolitik der Bundesregierung zu beginnen. An oberster Stelle der Tagesordnung für diese Verhandlungen stehe der Plutoniumbunker in Hanau, betonte Küntzel. Die US-Regierung wolle nämlich wissen, warum Bonn diese Plutonium-Menge in Hanau anhäuft. Top 2 sei die Frage des deutschen hochangereicherten Urans (z.B. Garching), Top 3 die »Rußland-Frage« (ob dort Plutonium via Mox in den kommerziellen Kreislauf gebracht wird, was Deutschland erreichen will, oder ob Plutonium z.B. per Verglasung ganz aus dem Kreislauf herausgenommen wird, was die USA wollen).
Die Plutoniummenge in Hanau wurde von der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage mit 2,5 Tonnen angegeben. Allerdings weigerte sich die Regierung, nähere Angaben zur genauen Zusammensetzung des Plutoniums zu machen. Auf diese Teile der Anfrage, die übrigens von Küntzel formuliert wurde, antwortete die Regierung durchgehend mit: »Diese Angaben unterliegen der Geheimhaltung.« Weiter teilt die Bundesregierung mit, daß in La Hague jetzt noch 6 Tonnen deutsches Plutonium lagerten.
Küntzel ist sich mit der Fachzeitschrift Nuclear Fuel einig, daß diese Bonner Geheimniskrämerei den Plutoniumbunker in Hanau außenpolitisch interessanter machen soll - so wie etwa Pakistan oder Südafrika auch nie nukleare Daten rausrückten.
Dies betreffe auch die Kontrollorganisationen IAEO und Euratom, hinter deren Kompetenzstreit schließlich der Widerspruch zwischen USA und Europa stecke. Die IAEO habe immer große Schwierigkeiten gehabt, korrekte Angaben über Hanau zu bekommen. Auch der stellvertretende TAEO-Chef habe ihm, so Küntzel, nicht sagen können (oder dürfen), welche Zusammensetzung das Plutonium in Hanau habe.
Vor diesem Hintergrund sei die Meldung vom 16.1.95 alarmierend, nach der Deutschland Waffenplutonium von Hanau nach Frankreich verschoben habe. Auf seine Nachfrage, so Küntzel, habe ihm der Autor dieser Meldung geschildert, daß die deutsche Seite versucht habe, ihn zu überzeugen, daß damit kein Waffenplutonium mehr in Hanau lagere.
So hätten etwa die deutschen Energieversorgungsunternehmen angeboten, das in La Hague lagernde deutsche Plutonium direkt in die USA zu bringen und damit den Forderungen der Clinton-Regierung entge-genzukommen. »Daraufhin waren die im Auswärtigen Amt vor Wut an der Decke.«
In Deutschland werde weiterhin tabuisiert, daß ein Interesse der Regierung an dem Plutonium bestehe. Daß die Linke diese Frage nicht zu einem Thema mache, wertete Küntzel als Beispiel dafür, daß sich ein Großteil der Linken seit 1989 weigere, umzudenken und Deutschland als neuen Hauptgegner ins Visier zu nehmen. In anderen Ländern sei dies dagegen selbstverständlich: »Die US-Linke hat Komitees zu Nicaragua gemacht, in Deutschland aber gibt es keine Tschechien-Komitees.« Im Moment werde es den Politikern und Mi-litärs im Ausland überlassen, vor der neuen deutschen Außenpolitik zu warnen.
Dabei müsse man den Ernst der Lage erkennen, mit der wir konfrontiert
sind. Noch seien eigene Atomwaffen ein Punkt, an den sich die deutsche
Regierung nicht herantraue. »In einigen Jahren ist das vielleicht
anders.«
esti
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