aus neue hanauer zeitung 115/116
Bahman Nirumand
Rede bei der Antikriegskundgebung am 29.9.2001 in Frankfurt/M.
Krieg nach außen kehrt sich auch nach innen


Es war gespenstisch, wie ein Albtraum, der nie enden will. Die grauenhaften Szenen, die lodernden Flammen, die Menschen, die sich aus den Fenstern in den sicheren Tod stürzten, die hohen Türme, die wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen, werden wohl ewig in unserem Gedächtnis bleiben.

Die Anschläge von Washington und New York waren ein bisher einmaliger Akt des Terrors. Sie richteten sich zwar eindeutig gegen Symbole, gegen Macht und Geld, aber, und das ist das Einmalige, die Attentäter haben von vornherein den Tod von Tausenden Menschen einkalkuliert. Das ist unbegreiflich. (...)

Manchen Politikern und Kommentatoren genügten schon die ersten Hinweise, um bereits wenige Stunden nach dem Anschlag zur Gewissheit zu gelangen. Sie verkündeten die Überzeugung, der Topterrorist Bin Laden sei es gewesen und in seinem Rücken die Taliban. Und da man im Augenblick des furchtbaren Schocks noch mehr wagen konnte, wurde gleich die gesamte islamische Welt auf die Anklagebank gesetzt. Warum?

Terroristen gibt es überall auf der Welt, in Irland, in Spanien, in Japan, in lateinamerikanischen Ländern, auch in den USA. Warum müssen die Hintermänner gerade Muslime gewesen sein? Die Antwort lieferten Politiker und sogenannte Nahost-Experten und Islamkenner, die erstaunlicherweise, man weiß nicht woher, plötzlich zuhauf in den Medien auftauchten: Jenseits der Grenzen der zivilisierten Welt herrsche Finsternis, suggerierten sie. Man sprach von dem Kampf der Kulturen, dem Kampf des Bösen gegen das Gute. Hier die Zivilisation, dort die Barbarei, hier die Freiheit, dort die Knechtschaft, hier der Fortschritt, dort die Stagnation. Schon am ersten Tag sprach US-Präsident George W. Bush von einem Kreuzzug gegen die Barbarei. (...)

Der Terroranschlag veranlasste auch den italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi, noch einmal unverblümt das auszusprechen, was in vielen Köpfen schwirrte: »Wir müssen uns unserer Vorherrschaft und der Überlegenheit unserer westlichen Zivilisation bewusst sein«, sagte er in Berlin. Die westliche Zivilisation sei der des Islam überlegen, die Welt müsse verwestlicht werden. Wörtlich sagte er: »Der Westen wird weiterhin Völker erobern, so wie es ihm gelungen ist, die kommunistische Welt und einen Teil der islamischen Welt zu erobern. ... Die westliche Gesellschaft schätzt die Freiheitsliebe, die Freiheit der Völker und des Einzelnen, die sicherlich nicht zum Erbgut anderer Zivilisationen wie der islamischen gehören. Diese Zivilisationen sind zu Taten fähig, die mich erschaudern lassen.«

Der Präsident hat die Worte nicht erfinden müssen. Seine Vorfahren in Italien und Deutschland sind vor nicht all zu langer Zeit derselben Idee von einer erhabenen Rasse gefolgt und haben die ganze Welt mit ihrer Zivilisation beglückt. Diese Arroganz ist ekelhaft und widerlich. Wer will es leugnen, dass der Westen Wunderbares hervorgebracht hat, in den Wissenschaften, den Künsten, der Literatur, der Philosophie, der Technik. Demokratie und Menschenrechte sind eine Errungenschaft des Westens. Aber gerade diese Errungenschaften werden oft aufgegeben, sobald man die Grenzen des Abendlands verlässt. Lassen wir die Zeit des Kolonialismus beiseite, werfen wir nur einen Blick auf das soeben vergangene Jahrhundert. Ich bin kein Glaubensfanatiker und weiß wohl, welche Verbrechen im Namen des Islam begangen wurden und werden. Aber es waren nicht die Muslime, es war die zivilisierte Welt, die sechs Millionen Juden vergast und verbrannt, Millionen Vietnamesen mit Napalm verstümmelt und verseucht hat. Es war die zivilisierte Welt, die in Chile geputscht und Zehntausende in den Tod geschickt, in Algerien Massenmorde durchgeführt und in Südafrika das System der Apartheid den Einheimischen aufgezwungen hat. Es war die zivilisierte Welt, die in nahezu sämtlichen Entwicklungsländern Diktaturen errichtet und sie mit Waffen versorgt hat. Die Flüchtlingslager Sabra und Shatila sind nicht das Werk der Muslime. Es ist doch bekannt, dass Saddam Hussein, die Taliban und ähnliche Verbrecher Zöglinge des Westens waren. Selbst der Terrorist Bin Laden war ein Schützling der CIA. (...)

Zeugen diese Taten von Humanität, von geistiger, moralischer Erhabenheit, von Zivilität? Wenn man sich vor Augen führt, wie viele Kinder und Erwachsene Armut, Hunger und Seuchenkrankheiten zum Opfer fallen, wenn man weiß, dass unzählige Mensehen in den Entwicklungsländern ihre gesunden Organe gegen ein Handgeld an reiche Europäer und Amerikaner verkaufen, um ihr Dasein fristen zu können, dann sollte erlaubt sein, die Begriffe Zivilisation und Barbarei noch einmal anhand der Tatsachen unter die Lupe zu nehmen.
Der Anschlag gegen das World Trade Center und das Pentagon, dieses apokalyptische Ereignis, hat ein Beben ausgelöst, dessen Erschütterungen überall auf der Welt die Menschen aufgerüttelt haben. Aus ihren verstörten, entsetzten Gesichtern war eine Frage zu lesen: In welcher Welt leben wir denn eigentlich? Ich meine, nicht in einer geteilten, sondern zumindest ökonomisch betrachtet, in einer globalisierten Welt. Für die Konzerne, Banken und Börsenmärkte gibt es längst keine Grenzen und keine Region, die aus ihrem Wirkungsbereich ausgeschlossen ist. Somit ist jede Aufteilung der Welt in Zivilisierte und Barbaren, Christen, Juden, Muslime anachronistisch. Es gibt heute außerhalb der westlichen Hemisphäre unzählige Menschen, deren äußere Lebensweise sich von denen eines Westeuropäers oder Nordamerikaners durch nichts unterscheidet. Das ist kein Grund zum Stolz, das ist eine Feststellung.

Doch es gibt innerhalb dieser vereinheitlichten Welt Unterschiede, von denen ich soeben einige aufgezählt habe. Was uns trennt, sind also nicht Ideologien, Religionen, Rassen, uns trennen die Fakten, Fakten, die demütigend, erniedrigend, entwürdigend und unzivilisiert sind. Sie machen wütend, schaffen Hass- und Rachegefühle. Sie, und nicht etwa ein vermeintlicher Kampf der Kulturen, schaffen den Nährboden für den Terrorismus. Man kann den Terrorismus nicht mit Terror, mit Gewalt beseitigen, auch nicht mit Arroganz und Überheblichkeit.
(...)
Die Wahnsinnstat vom 11. September hat auch in Deutschland den Rechten Auftrieb gegeben. Sie fühlen sich endlich zu Hause. Ihre Stunde ist gekommen. Sie können wieder der europäischen, der deutschen Leitkultur nacheifern, die längst verstaubten Pläne aus den Schubladen holen, hoffend, dass sich in dieser erhitzten Atmosphäre kaum ein Widerstand regen wird. Neue Gesetzespakete werden geschnürt, der Datenschutz soll gelockert, die Grenzkontrollen verschärft, die Ausweise mit Fingerabdrücken versehen werden. Wer trägt die Schuld für diese Einschränkungen längst selbstverständlich gewordener Freiheiten? BKA und Verfassungsschutz liefern die Antwort. Sie liefern den Nachweis, dass unter uns Terroristen leben, Menschen, die sogar jahrelang ein normales, unauffälliges Leben führen, aber im Hinterhalt ihre mörderischen Pläne schmieden, es sind sogenannte Schläfer, die jederzeit mit einem Wink aus Afghanistan oder Irak geweckt und für eine Mordtat eingesetzt werden können. Und wie sehen diese Menschen aus? Nicht blauäugig und blond, auch nicht kahlköpfig, dunkel sehen sie aus, sie haben schwarze Haare, dunkle Augen, dunkle Haut, sie verkehren in islamischen Kreisen, in Moscheen, Vereinen, die ihnen als Tarnung dienen. Eine grässliche Situation, die jeden normalen Bürger Angst und Schrecken einjagt. Denn solchen Typen begegnet man jeden Tag, auf der Straße, in der Nachbarschaft, auf dem Sportplatz, im Kino, im Supermarkt. Plötzlich erscheint das, woran man sich allmählich gewöhnt hatte, fremd, beunruhigend, beängstigend. Noch vor Wochen hatte man sich mit dem Gedanken angefreundet, jährlich einige Zehntausend Migranten aufzunehmen. Aber jetzt, nach allem, was man erfahren hat, scheint die Öffnung der Grenzen für Migranten viel zu riskant. Auch denen, die unter uns leben, soll »man« genau auf die Finger schauen, »man« muss auf der Hut sein. »Man« kann ja nie wissen. (...) »Die« sind unberechenbar. Und auf einmal werden zwischen »die« und »wir« scharfe Grenzen gezogen, Grenzen, die wir gemeinsam in jahrzehntelanger, mühevoller Kleinarbeit allmählich aufgehoben haben. Sie werfen uns um Jahre zurück. Krieg nach außen, gegen die Barbarei, kehrt sich auch nach innen. Das Gefecht wird nicht mit Waffen, sondern mit Gesetzen, Einschränkungen, Sanktionen, raschen Abschiebungen, Schließung der Grenzen und Aufstellung von Feindbildern geführt.

Das ist wahrlich kein Weg zum Frieden.

Als in Solingen, Mölln und Hoyerswerda Menschen und Flüchtlingsheime verbrannten, haben die Hinterbliebenen der Opfer nicht alle Deutschen als Neonazis verurteilt. Wir, Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, haben, seitdem die ersten Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind, viel voneinander gelernt. Was wir dabei gewonnen haben, sollten wir so leicht nicht aus der Hand geben. Das Entsetzen über die schreckliche Katastrophe am 11. September, die tiefe Trauer über die Opfer sollten uns eher zusammenschmieden. Grenzziehungen, Benachteiligungen, Ungerechtigkeiten, Demütigungen, schaffen keinen Frieden. Sie schüren Hass, der in Extremfällen in Terror münden kann.

Die grässlichen, menschenverachtenden Anschläge vom 11. September sollten für uns eine Warnung sein. Frieden bedarf Kritik und Selbstkritik auf beiden Seiten, Akzeptanz und Dialog. (...)



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