Guelsen Kaçar
Der nachfolgende Brief einer jungen tuerkischen Frau aus Berlin-Kreuzberg beschreibt uns die Gedanken und Gefuehle der Menschen, die auch von den juengsten Ereignissen betroffen sind. Guelsen Kaçar (31) hat studiert und macht gerade eine Ausbildung als Fremdsprachensekretaerin.

Ich habe Angst. Auch gestern Abend, eine Woche nach den Anschlaegen auf Amerika, konnte ich wieder nicht einschlafen. Ich mache mir pausenlos Gedanken und Sorgen. Um meine Zukunft, um die Zukunft meiner Freunde. Und vor allem um die Koexistenz der Religionen dieser Welt.

Ich bin muslimischer Herkunft und akzeptiere diese Religion - auch wenn ich selbst sie nicht intensiv lebe. Meine Familie hat mir
gewisse islamische Traditionen aber auch Toleranz gegenueber anders Denkenden beigebracht. Ich habe auch Freunde, die den Islam praktizieren. Darunter uebrigens auch zwei deutsche Frauen, die zu dieser Religion uebergetreten sind.

Natuerlich symphatisiert niemand von diesen Leuten mit Terroranschlaegen oder ist daran interessiert, anderen Menschen ihre
Religion aufzuzwingen. Denn im Ursprung hat der Islam nichts mit Gewalt zu tun, sondern ist friedliebend.

Trotzdem besteht jetzt die Gefahr, dass auch in Berlin Moslems pauschal verurteilt oder bedroht werden. Das entnehme ich den
Medien. Eine meiner deutschen Freundinnen, die in einer arabischen Firma arbeitet, hat dort bereits Drohbriefe erhalten.

Das hat mich hier in Berlin besonders erschreckt, es passt nicht zur Berliner Bevoelkerung. Ich lebe, seit ich drei Jahre alt bin, in
Kreuzberg, wo das Miteinander der Religionen und Kulturen bislang sehr gut klappt.

Sicherlich hatte ich den Vorteil toleranter Eltern, die mir die Chance gegeben haben, Kontakt zu Deutschen zu pflegen und mich aktiv zu integrieren. Und zwar ohne meine tuerkische Herkunft zu verleugnen. Ich kenne Familien, in denen das nicht moeglich war, die sich eher isoliert haben. Aber heute sehe ich, dass dieses Abschotten nur noch selten vorkommt. Berlin ist eigentlich auf einem guten Weg.

Aber ein pauschaler Gegenschlag der Amerikaner auf den Islam koennte fuer Europa, fuer Deutschland und auch fuer Berlin fatale Folgen haben. Ich hoffe, dass die Amerikaner ueberlegt handeln und uns nicht in diese Gefahr reiten. Die muslimischen Familien, die ich kenne, haben ebenso grosse Angst wie ich: Niemand von ihnen will Krieg, natuerlich nicht.

Berlin ist ihre zweite Heimat geworden, und jetzt fuehlen sie sich ploetzlich auch hier bedroht: Durch die (vor-)schnelle Beschuldigung angeblich islamisch-religioes motivierter Attentaeter fuehlen auch sie sich nun angreifbar. So, als haetten Deutsche nun ploetzlich eine Legitimation, sie zu beschuldigen, zu verdaechtigen, anzugreifen.

Angst habe ich vor allem davor, dass Rechtsradikale sich nun erst recht bestaetigt fuehlen und einen Boden fuer ihre rassistischen Parolen und Uebergriffe, auch auf mich, finden koennten. Aber ich weiss und sage mir immer wieder, dass diese Rechtsradikalen einen nur sehr kleinen Teil der Bevoelkerung ausmachen - und zwar in jedem Land der Erde. Gerade deshalb sollte man ihnen keine vermeintliche Bestaetigung fuer ihre Vorurteile liefern. Ich befuerchte, dass die USA genau dies mit einem vorschnellen Angriff auf die islamische Welt tun koennte.

Ich selbst und muslimische Freunde von mir koennen uns ohnehin nicht vorstellen, dass die Anschlaege religioes motiviert waren. Denn sie passen nicht zu unserer Auffassung von dieser Religion. Was ich sagen will: Die Attentaeter koennen genauso gut islamischer wie auch christlicher oder anderer Herkunft sein. Wer auch immer das getan hat, hat irgendeine Idee oder Ideologie ausgenutzt, um damit seine Taten zu begruenden.

Ich merke in diesen Tagen der Angst ganz besonders, wie sehr ich mein Leben liebe. Von klein auf lebe ich in dieser  multikulturellen und vielfaeltigen Gesellschaft, die gerade in Berlin sehr ausgepraegt und bereichernd ist. Als ein Teil dieser Gesellschaft moechte ich mich fuer sie engagieren und auch meine ganz privaten und beruflichen Ziele verfolgen.

Dieses Recht sollte jeder friedliche Mensch, egal welcher Herkunft und Religion, haben. Deshalb trauere ich um die Opfer in Amerika, denen diese Chance nicht mehr gegeben ist. Wir Menschen sind auf einem guten Weg, ein Neben- und Miteinander der verschiedenen Lebensauffassungen zu akzeptieren. Ich habe grosse Angst, dass dieses sensible Gefuege jetzt voreilig zerschlagen werden koennte.



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