Eine fundamentale Abrechnung
Ludger Volmer wertet sachter, im Ergebnis ähnlich desaströs ab.
Ihm scheinen die
Pazifisten, die er in einer blumigen Variantenfülle präsentiert,
dort jedenfalls, wo sie
Krieg in jeder Form ablehnen - was doch wohl erst die Bezeichnung "pazifistisch"
verdient -, blind für die gegenwärtig gestellten Probleme. Dass
man stattdessen
pazifistische Moral mit kriegerischem Handeln in nicht weiter bestimmten
Notfällen
vereinbaren könne, ist des Herrn Staatsministers großes, perverse
Sachverhalte
harmonisierendes Ziel.
Im Gegensatz zu Volmer jedoch, der die heute - und gestern schon und morgen
noch mehr - gestellten Probleme über die neue mythische Chiffre "11.
September"
hinaus nicht einmal antupft, behaupte ich, dass unter menschenrechtlich
seriöser
Perspektive allein eine Politik den Problemen unserer Zeit verantwortlich
entspricht,
die das Mittel kollektiver Gewalt, also des Kriegs in diversen Lesarten,
nicht
benutzt. Ich greife einige der miteinander gekoppelten Probleme pointiert
heraus.
Das überragende Problem stellt der weltweit wild und hemmungslos gewordene
Kapitalismus dar. Dieser bewirkt zusammen mit der ihm eng verbundenen
wissenschaftlich technologischen Entwicklung den sich dynamisch fortsetzenden
Zustand der Globalisierung. Getrieben von Millionen und Abermillionen von
Interessen hat der seit Jahrhunderten zuerst im Westen und Norden, dann
ost- und
südwärts expandierende, unersättlich wachsende Kapitalismus
einen unerhörten
Boom von Produktivität und Produkten entfesselt. Das Stichwort unserer
Zeit lautet
nicht zufällig: Innovation. Zugleich bedeutet diese entfesselte Logik
der weiteren
Entfesselung jedoch einen gleichfalls unerhörten Raubbau an natürlichen
Umständen, vor allem jedoch die Vernutzung und Zerstörung ("Dissoziation")
sozialer Institutionen und Verhaltensweisen. Nicht nur Pflanzen- und Tierarten,
"Menschentypen", um einen Begriff Max Webers in seinem Sinne aufzugreifen,
werden marginalisiert und in ihren Lebensbedingungen zerstört wie
quer zur
Geschichte der moderne Indianer und vormoderne Stammeskulturen samt ihren
Angehörigen.
Bis heute werden zur Durchsetzung all dessen, was allzu unqualifiziert
euphemistisch "Modernisierung" oder "Transformation" oder eben Kapitalismus
und, als ob harmonisch vereint, liberale Demokratie genannt wird, eine
Fülle mehr
oder minder sublimer Gewaltmittel eingesetzt. Notfalls Kriege. Heute ist
jeder
aufmerksam sensiblen Beobachterin das Menetekel erkenntlich: Der Menschheit,
die weltweit den Menschenrechten gemäß leben könnte - das
ist das große
Versprechen europäisch-angelsächsischer Aufklärung -, schwindet,
neutechnologisch vollends ausgehöhlt, die nötigen sozioökonomischen
und
politischen Bedingungen. Vielmehr: Diese werden nie geschaffen. "Der flexible
Mensch" (Richard Sennett), möglicherweise entsprechend humangenetisch
befähigt, ist Trumpf. Rundum einsatz- und anpassungsfähig, mit
vernachlässigbaren, notfalls sicherheitspolitisch zu kasernierenden
kognitiv-psychischen "Innereien".
Der globale Kapitalismus gründet nicht nur auf innergesellschaftlicher
und
zwischengesellschaftlicher Ungleichheit. Sein konkurrierendes, arbeitsteilig
produzierendes und konsumierendes, sein auf dem Wachstum von
Profit-Reichtum-Macht ausgerichtetes "Wesen" produziert neue, auf der
vorhandenen in der Regel aufgesetzte soziale Ungleichheit fort und fort.
Ungleichheit, massenhafte Unterversorgungen aller Art - von der Ernährung
über die
Gesundheit bis zur Bildung und Beteiligung -, verstößt nicht
allein systematisch
wider die Menschenrechte, die mehr sind als bürgerlich privilegierte
Farbtupfer.
Ungleichheit staut Aggressionen. Sie bildet Reservoirs aller Arten von
Gewalt. Wer
immer, herrschaftsinteressiert, dieses Reservoir für sich nutzen mag.
Damit jedoch nicht genug der im weltweiten Wirkungszusammenhang nicht zuletzt
(neo-)liberal vom siegreichen "Westen" her historisch und gegenwärtig
gebildeten
Probleme. Wenigstens ein zentrales Problem ist noch zu erwähnen. Der
Mangel
angemessener soziopolitischer Organisationen.
Obwohl die kapitalistische Vergesellschaftung - bald mit der politisch
staatlichen
verbunden - sich im Westen über Jahrhunderte entwickelt hat und die
neuere
Globalisierung lange erkenntlich gewesen ist, haben es selbst die europäisch
angelsächsischen Gesellschaften versäumt, problemangemessene,
allein den
quantitativen Dimensionen gewachsene Institutionen und Prozeduren
("Organisationsformen") zu erfinden, die sie nicht zu abhängigen Größen
der
dominanten kapitalistischen Vergesellschaftungsform als spezifischem
Entgesellschaftungsprozess machen.
Bis heute tut die bei weitem überwiegende, in diesem Sinne liberale
Mehrheit so,
als reiche "Marktvertrauen" prinzipiell aus. Als müssten dazu hin
nur ein wenig
Rechtsgarantie aller (ökonomischen) Verträge und durch das staatliche
Gewaltmonopol zu gewährleistende Sicherheit der gegebenen und konkurrierend
wachsenden Privilegienordnung hinzukommen. Dann werde alles inmitten einer
grenzenlosen kapitalistischen Welt eitel Wonne.
Diese kapitalistisch quietistischen Annahmen sind im Kern unrichtig. Das
belegen
nicht nur die ungeheuren Kosten inmitten der durchkapitalisierten Welt
und mehr
noch der Welt, die gegenwärtig bis hin zu den Ländern Zentralasiens,
angefangen
mit Afghanistan, durchkapitalisiert wird. Das belegt auch das lemminghaft
unverantwortliche Verhalten der scheinmächtigen global players und
der
scheinmachtvollen Staatsleute.
Das ist die Oberfläche einiger Hauptprobleme. Von diesen Problemen
hat Volmer
nicht gesprochen. Sein analytischer Spaten blieb im Kellerraum des Außenamts.
Niemand, der einigermaßen durchblickt, vermag eindeutige oder gar
auf Dauer
angelegte "Lösungen" vorzuschlagen. Die zweiteilenden Etiketten "böse"
oder
"gut", fast immer herrschaftlich verblödende Kennzeichnungen, helfen
am
wenigsten. Auch und gerade angesichts des innig ambivalenten globalen
Kapitalismus nicht.
Nur dreierlei ist eindeutig und klar:
(a) So wie die westlichen Staatsleute den 11. September 2001 interpretieren,
demonstriert dies nur, dass sie die terroristisch zum Ausdruck gekommenen
Probleme nicht begriffen haben, nicht begreifen wollen. Angetan mit ihren
alten,
privilegierten Interessenspelzen betreiben sie vielmehr herrschaftlich
routinisierte
und das heißt selbstredend in Gewalt, Öl, Gas und Drogen ersäufte
Pseudopolitik.
Sie suchen nun, vom weltpolitischen Gernegroß Schröder besonders
auffällig
repräsentiert, die ganze Welt noch stärker militärisch,
westlich privilegierten
Interessen gemäß, zu besetzen und zu durchdringen. Als ob damit
die ohnehin
schon lange überbordende Gewalt nicht weiter überbordete, dann
auch den Westen
nicht mehr schützend. Wenn nicht heute, dann morgen.
(b) Die extrem verkürzt angeritzten Probleme lassen sich in keinem
Fall mit Gewalt
lösen. Gewalt, auch solche überlegene und damit fürs erste
fast risikolose Gewalt,
wie sie westlich, US-geführt zu militärisch-tödlichem Gebote
steht, ist nichts
anderes als kontraproduktiv. "Nicht nur" kommen Menschen um - ein "nicht
nur",
das menschenrechtlich nicht gilt, es sei denn man funktionalisiere
Menschenrechte nach eigenem Interessensgout; werden Lebensmöglichkeiten
von
Menschen zerstört; wird in Gewalt "sozialisiert"; und werden Aggressionen
habitualisiert. Vielmehr verdummt, menschenrechtlich demokratisch qualifiziert,
die
Politik der militärisch (und kapitalistisch) Gewaltigen. Sie verlangt
dauernde
Hochrüstung. Und sie produziert nachahmende Hochrüstung weltweit.
Sicherheit
wächst nicht; sie sackt ins gewalttätig Bodenlose.
(c) Die Konzentration auf militärische Gewalt fordert enorme Opfer
auch in
westlichen Gesellschaften, auch in Nicht-Kriegszeiten. Demokratisierung,
Grund-
und Menschenrechte werden durch "Sicherheitspakete" abgebaut.
Das aber verlangte wahre Politik, die nicht nachäffen, die vielmehr
im Sinne von
Menschenrechten gestalten will. Sie müsste unter anderem die Verhältnisse
umkehren und die Abermilliarden statt für Rüstung für Friedensförderung
und zivile
Bearbeitung von Konflikten einsetzen. Das verlangte eine Politik, die anstrengend
den Möglichkeitssinn beförderte und Frieden durch den allmählichen
Abbau von
Gewalt nach und nach möglich machte. Indem sie Aggressionen individuell
und
kollektiv nicht leugnete, jedoch deren massive Ursachen abbauen hälfe
und Formen
des Konfliktumgangs fände, die politisch den Problemen angemessen
wären.
Zurück zur Übersicht Artikel
Zurück zu Übersicht Terror