(chin: bu zeng bu jian, jap.: fu-zo fu-gen) Weder Erreichen, noch Verlieren: Alle Ziele, nach denen wir streben, sind von uns selbst konstruiert, tatsächlich gibt es nichts zu erreichen. In Wirklichkeit haben wir auch nichts zu verlieren, weil es in der höchsten Realität nichts zu verlieren gibt. Dennoch erfahren wir im täglichen Leben Leid und Entbehrung. Was dies mit den geschichtlichen Wurzeln unserer Weltwahrnehmung und unseres Denkens zu tun hat und welche spezifischen Beiträge engagierte Buddhisten zur Lösung der Probleme der modernen Welt leisten können, dazu finden sich im neuen Think Sangha Journal eine Reihe von Antworten und jede Menge offene Fragen.
David R. Loy sucht in seinem Beitrag A Buddhist Analysis of Modernity nach den spirituellen Wurzeln unseres modernen Denkens. Die institutionalisierte Gier in der wirtschaftlichen Sphäre des Lebens, die institutionalisierte Gewalt der Militärapparate und der Mangel an Weisheit im institutionalisierten Universitätsbetrieb - Loy sieht die Triebfedern all dessen in einem falschen Verständnis des Selbst. Wer ein von der Welt getrenntes Selbst als real ansieht, will zwangsläufig dessen Beständigkeit sichern und muss alles abwehren und unterwerfen, was eben dieses Selbst in Frage stellt. Existentielle Furcht vor dem Verlust eines imaginären Selbst wird so zur Triebkraft, um gewaltige Schutzwälle in Form des Nationalstaates, einer marktvermittelten Wirtschaft und einer die Wirklichkeit in Stücke teilenden, mechanistischen Wissenschaft zu errichten. Die Reformation als geistiger Ausgangspunkt der Neuzeit löst das religiös bestimmte und durch göttliche Eingriffe bestimmte alte Weltbild auf. Erfolg im weltlichen Leben gilt nun auch als Erfüllung einer gottgegebenen Aufgabe. Die rationale Organisation der Wissenschaft und eine unpersönliche Staatsmacht anstelle des feudalen Herrschers eröffnen dem imaginären Selbst neue Hoffnungen auf Dauer und Transzendenz. Loy sieht im Buddhismus ein Instrument, um diese geronnenen Formen unserer existentiellen Verblendungen und Ängste aufzudecken. Das Erkennen leerer Idole führe uns zurück zum spirituellen Ausgangspunkt ihrer Entstehung.
Reinhabiting the Flatlands will Jonathan Watts in seinem Beitrag, der nach den Perspektiven buddhistischer Wahrnehmung in der modernen Welt fragt und sich dabei auf Loys Analyse der spirituellen Wurzeln der Moderne bezieht. Von der Fixierung auf den Tod als Endpunkt eines Lebens, in dem alles vollbracht werden muss, brauchen wir einen Perspektivenwechsel hin zur Erfahrung einer im Kern substanzlosen und in ständiger Veränderung begriffenen Wirklichkeit. Die Wahrnehmung der Dinge in ihrer Entstehung in Abhängigkeit tritt an die Stelle einer dualen, die Wirklichkeit in Subjekt und Objekt spaltenden Weltsicht. Wer die Selbstlosigkeit der Dinge schaut, erfährt weder Mangel noch existentielle Angst. Eine neue Sicht der Dinge, so Watts, findet auch Ausdruck in einer neuen Sprache, ebenso wie Sprache das Instrument zur Wahrnehmung und Erzeugung der uns umgebenden Wirklichkeit ist. Die Symbolsprache des Religiösen soll wieder Eingang in das alltagssprachliche Denken finden. Damit sind jedoch nicht in erster Linie die Pali-Begriffe der buddhistischen Analyse der Wirklichkeit gemeint, die auch zur einer realitätsnahen Sicht der Dinge führen können. Watts geht es vielmehr um die Praxis der Konzentration und Einsicht, die uns hilft, tradierte individuelle und kollektive Konzepte loszulassen.
Ken Jones sucht nach einem mittleren Weg zwischen Kontemplation und Aktivität. Die buddhistische Analyse des menschlichen Leids habe auch soziale Implikationen. Engagierter Buddhismus sei daher konsequent praktizierter Buddhismus. Sein Beitrag Emptiness and Form. Engaged Buddhism Struggles to Respond to Modernity beginnt mit einer Defi-nition der Bandbreite des engagierten Buddhismus: “Engagierter Buddhismus definiert sich als öffentliches Engagement in Sorge und Fürsorge, in sozialen und Umweltbewegungen, in Gewaltlosigkeit als kreativem Weg der Konfliktbewältigung und ähnlichen Initiativen in Richtung einer sozial gerechten und ökolo-gisch nachhaltigen Gesellschaft. Zugleich wird eine offene buddhistische Perspektive zu einer ganzen Reihe aktueller Probleme von Gender-Politik bis Sterbehilfe offeriert.” Eine Definiti-on, die Santikaro Bhikkhu, ein Schüler Buddhadasas und lange in Thailand lebender Mönch amerikanischer Herkunft, in seinem eigenen Beitrag Socially Engaged Buddhism and Modernity. What Sort of Animals are They? in Frage stellt. Schon die Formulierung sei frag-würdig: Was ist es, dass sich selbst definiert? Das illusionäre Selbst als Bündel der Aggregate (khandhas) oder handelt es sich gar um die neue Definition eines irgendwie “wirklicheren” Buddhismus? Kann der Begriff Engagierter Buddhismus wirklich ein Spektrum von Menschen abstecken, die so unterschiedlich sind, wie im karitativen Bereich Tätige, thailändische Waldmönche und im Namen des Buddhismus revoltierende birmesische Studenten? Santikaro Bhikku, der mit seiner Kritik am selbstgefälligen, engstirnigen und patriarchalischen Klosterleben in Thailand nicht zurück hält, ist des ständiges Diskurses über Moderne und Postmoderne ein wenig müde. In Asien herrsche ein anderes Verständ-nis von Modernität und Fortschritt. Während im Westen das Konzept der Moderne in der Krise stecke, so seine Überlegung, seien viele asiatische Länder gerade im Sprung von vor- zu modernen Gesellschaften. Engagierter Buddhismus steht daher in einem weltweiten Span-nungsverhältnis, das man am besten mit dem Begriff der Ungleichzeitigkeit beschreiben kann. Dass jedoch auch in diesem Spannungsverhältnis eine erfüllende Praxis möglich ist, beweisen so renomierte engagierte Buddhisten wie Buddhadasa Bhikku, Thich Nhat Hanh oder der Dalai Lama, von denen jeder auf seine Weise eine gelungene Synthese östlicher Weis-heit mit westlichen Werten verkörpert.
Interessant ist auch der Beitrag von Nelson Foster: How Shall We Save the World?: An Anniverary Essay on a Perennial Topic, auf den sich David R. Loy dann in einem weiteren Beitrag kritisch bezieht. Foster konzentriert sich vor allem auf den Mahayana-Buddhismus in Japan und China. Seine Gedanken knüpfen an Ideen von Gary Snyder an: Wenn es den Buddhisten um die Rettung aller Wesen geht, dann müssten sie ihr Augenmerk auch auf die gesellschaftlichen Ursachen des Leidens richten. Obwohl die moralische Lehre des Buddha im Kern auf eine freie und klassenlose Gesellschaftziele, seien die früheren Zen-Meister hingegen so gut wie nie in sozialen Projekten engagiert gewesen. In der Überlieferung fänden sich lediglich individuelle Akte von Güte und Aufrichtigkeit. Loy bemerkt in seinem Kom-mentar zu Foster, dass die Mahayana-Perspektive zu eng sei und nur einen Teil des buddhistischen Spektrums abdecke. Sein eigener Standpunkt ist jedoch von dem Fosters nicht sehr verschieden. Vor dem Blick auf die Gesellschaft dürfe das einzelne Wesen nicht zurücktreten. Dies ist auch die Lehre Hua Yens: Weil jedes Phänomen alle anderen enthält, sind alle Wesen gerettet, wenn eines gerettet ist. Wir brauchen, so Loy, eine kreative Rezeption der buddhistischen Lehren für die moderne Welt. Was an einem bestimmten Ort zu einer gegebenen Zeit und in einem spezifischen kulturellen Kontext richtig war, kann es nicht überall, zu jeder Zeit und in jeder Situation sein. Das schließt auch die Kritik an falschen Auffassungen und Praktiken der Vergangenheit ein. So sei zum Beispiel das Zen auch deshalb unter den Samurai verbreitet gewesen, weil es hilfreich war, das Kriegshandwerk effizienter zu verrichten. Auch die Lehre, “dass nichts zu erlangen ist”, wurde nicht selten zur Legitimation von Ausbeu-tungsverhältnissen in sozialen Beziehungen missbraucht.
Der letzte und bewegendste Beitrag stammt von Ouporn Khuankaew: Feminism and Budd-hism: A Reflection Through Personal Life and Working Experience. Khuankaew stellt dem Buddhismus in Thailand kein positives Attest aus: Er sei patriarchalisch, institutionell erstarrt und korrupt. Dies habe mit dem Fehlen der vollen Ordination für Frauen zu tun. Durch die Schilderung ihres eigenen Lebens in einer armen, kinderreichen Familie mit einem gewalttätigen Vater wird deutlich, wie notwendig hier Veränderungen sind. In einer Gesellschaft, in der es etwa genauso viele Prostituierte wie Mönche gibt, so Khuankaew, die selbst im Buddhismus die Grundlage ihres Lebens sieht, darf die Lage der Frauen nicht länger ignoriert werden. So sollten die Mönche zum Beispiel die Männer lehren, ihre Frauen nicht zu schla-gen. Ouporn Khuankaew veranstaltet regelmäßig Workshops, an denen Mönche und Nonnen gemeinsam teilnehmen und auf denen sie ihr traditionelles Rollenverständnis thematisieren können. Mit großem Feingefühl beschreibt sie, wie schwierig es ist, bei solchen Anlässen Vertrauen herzustellen, das notwendig ist, um die Verletzbarkeit der Menschen sicht- und fühlbar zu machen.
Engagierter Buddhismus, das zeigen die
Bei-träge dieses Bandes, ist kein homogenes Gebil-de und auch kein
“4. Fahrzeug” des Dharma, sondern umfasst ein buntes Mosaik breitgefächerter
Aktivitäten und Denkweisen. Es gibt keine einheitliche und einfache
buddhistische Gesellschaftssicht und ebenso keine Exklusivi-tätsansprüche
auf Wahrheit. Nicht jedem wird der theoretische Stil dieser Aufsätze
zusagen. Und es ist auch, schon Kritik laut geworden an einem Diskurs-Buddhismus
westlicher Coulour, dessen Hauptvertreter weiße Intellektuelle vorwiegend
angelsächsischer Herkunft sind. Asiatische Buddhisten denken aufgrund
ihrer kulturellen Prägung über viele Probleme in ganz anderer
Weise nach als wir im Wesen. Die Integration des Buddhismus in die westliche
Kultur steht noch weitgehend am Anfang. Formen und Wege dieser Integration
sind auch ein Lernprozess für asiatische Kulturen, der zur Auseinandersetzung
mit überlieferten Traditio-nen und Werten anregt. Die Erschließung
der Relevanz des Buddhismus für das soziale Le-ben ist dabei ein entscheidender
Punkt. Viel-leicht ist es gut, einer Anregung von Ken Jones zu folgen und
nur von Sozial engagiertem Buddhismus (SEB) anstelle von engagierten Buddhismus
zu sprechen, denn engagiert sollte eigentlich jede(r) Buddhist(in) sein.
Soziale Veränderungen stehen in enger Verbindung mit individuellen
Transformationsprozessen. Kon-zepte, Modelle und Methoden des Kopfes reichen
nicht aus, um Leid in Freude, Harmonie und Hoffnung zu verwandeln. Buddhistische
Praxis fordert die Veränderung des ganzen Menschen in seinem sozialen
Umfeld. Erwachen bedeutet auch, seine Erfahrung mit ande-ren zu teilen.
Hans-Günter Wagner
Das THINK SANGHA JOURNAL The Lack of Progress. Buddhist Perspectives on Modernity and the Pitfalls of ‘Saving the World’ (No. 2, Winter 1999), 181 Seiten, kann für 5 US-Dollar (ohne Versandkosten) über Jonathan Watts, Togenji Terrace # B, Yamanouchi 868, Kamukura City, Kanagawa 247-0062, JAPAN , bezogen werden.