Buddhistische Ethik und Gesellschaft
Von Sulak Sivaraksa
Sulak Sivaraksa ist thailändischer Theravada-Buddhist, Professor für Sozialwissenschaft an Universitäten Thailands und der USA, vielfach engagiert für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden in Südostasien und war zeitweilig wegen 'Majestätsbeleidigung' im Gefängnis inhaftiert und im Exil lebend. Er ist Mitgründer des International Network of Engaged Buddhists (INEB).

Alle Buddhisten akzeptieren fünf Vorsätze (Panca Sila) als grundlegende ethische Ausrichtung. Diese als Orientierung nutzend, wissen wir, woran wir uns in den vielen Gegebenheiten des Alltags halten wollen.

Erster Grundsatz

Der erste Grundsatz ist: "Ich verpflichte mich, nichts Lebendiges zu töten". Wir versprechen, nichts zu zerstören, nicht Grund zu sein für Zerstörung oder Grund für die Sanktionierung der Zerstörung irgendeines Lebewesens. Indem wir diese Maxime akzeptieren, anerkennen wir unsere Verbundenheit zu allem Lebendigen und sind uns bewusst, dass Schaden gegen jegliches lebende Wesen Schaden ist gegen uns selbst. Der Buddha sagt, "Erkennen wir unsere Identität mit den Anderen, können wir niemals töten oder Grund sein zum Töten."

Dieser Grundsatz gilt für alle Kreaturen, ungeachtet ihrer Größe. Wir opfern keine Lebewesen für religiöse Handlungen, für die Bequemlichkeit oder für Nahrung. Stattdessen versuchen wir, unsere eigennützigen Motive aufzugeben. Mahayana Buddhisten sagen sogar: Sei bereit zu Taten, die dir selbst schaden, wenn sie wahrhaft anderen Wesen helfen. Die vietnamesischen Mönche z.B., die sich selbst verbrannten (Anfang der sechziger Jahre), waren der Auffassung, dass ihr Handeln dazu betragen könne, den Vietnamkrieg zu beenden. Gemäß der Tradition des Theravada-Buddhismus ist Reinheit Voraussetzung für Weisheit und Mitgefühl, und ernsthafte Theravadins missbilligen jegliches Töten. Für Theravada Mönche ist sogar das Fällen von Bäumen oder 'Kultivieren' von Land Töten. Jedoch die meisten von uns müssen Kompromisse eingehen. Alan Watts sagte einmal, dass er sich entschlossen habe, Vegetarier zu sein, weil Kühe lauter schreien als Salat. Mahayana Mönche können im allgemeinen Vegetarier sein, weil es ihnen erlaubt ist, ihr Land selbst zu bestellen. Theravada Mönche dagegen sind völlig abhängig von ihren Nahrungsspendern, und müssen somit essen, was immer sie angeboten bekommen, inklusive Fleisch. Doch gewinnen sie den Eindruck, dass ein Tier speziell für sie getötet wurde, können sie es nicht essen.

Tiere zu töten und Fleisch zu essen kann für eine einfache Agrargesellschaft oder für dörfliches Leben angemessen sein, doch existiert einmal ein kompliziertes Markt-System muss der erste buddhistische Grundsatz erneut sorgfältig geprüft werden. In Industriegesellschaften wird Fleisch behandelt wie jedes andere Produkt. Kennt die Massenproduktion von Fleisch irgendwelchen Respekt gegenüber dem Leben der Tiere? Wenn die Menschen in fleischessenden Ländern Abstand nehmen könnten von der Tierzucht für den Konsum, würde dies nicht nur Mitgefühl gegenüber den Tieren bezeugen, sondern ebenso gegenüber den in Armut lebenden Menschen, welche das Korn brauchen um zu überleben.

Buddhisten müssen sich auch dessen bewusst sein, dass es genug Lebensmittel in der Welt gibt, um uns alle angemessen zu ernähren. Hunger wird allein verursacht durch ungleiche Wirtschafts- und Machtstrukturen, die es den Lebensmitteln nicht erlauben, dorthin zu gelangen, wo sie gebraucht werden, selbst dann nicht, wenn jene, die die Lebensmittel benötigen, auch ihre Produzenten sind. Wir müssen unser Augenmerk ebenso auf den Waffenhandel richten und die Strukturen hinterfragen, die für das Morden verantwortlich sind. Das Töten durchdringt unsere ganze moderne Lebensweise - Kriege, Rassenkonflikte, Tierzucht im Interesse des Marktes, Verwendung schädlicher Insektengifte. Wie können wir dem widerstehen und dazu beitragen, eine gewaltfreie Gesellschaft zu schaffen? Wie kann der erste Grundsatz und seine heilsame Wirkung genutzt werden, um eine politisch gerechte und dankbare Welt zu gestalten? Ich mache hier nicht den Versuch, diese Fragen zu beantworten. Ich möchte sie nur wecken, damit wir darüber nachdenken und meditieren.

Zweiter Grundsatz

Der zweite Grundsatz heißt: "Ich verpflichte mich, nicht zu stehlen." In der "Welt-Eroberer-Schrift" (Cakkavatti Sahananda Sutta) sagt der Buddha: erlaubt einmal ein König, dass Armut in seiner Nation auftritt, werden die Leute immer stehlen um zu überleben. Ökonomische Gerechtigkeit ist eng verbunden mit 'Rechter Lebensweise' (fünfter Aspekt von Buddhas 'Achtfachem Pfad' zur Befreiung vom Leiden). Wir müssen uns große Mühe geben, um sicherzustellen, dass es sinnvolle Arbeit gibt für jeden der arbeiten kann. Ebenso müssen wir die Verantwortung dafür erkennen, dass der Diebstahl unserem ökonomischen System direkt anhaftet. Das Leben in 'Rechter Lebensweise' zu führen bedeutet, freiwillige Einfachheit aus Mitgefühl mit allen Wesen, Verzicht auf Ruhm, Profit und Macht als Lebensziele ebenso wie das persönliche Stellungbeziehen gegenüber der strukturellen Gewalt repressiver Zustände. Denn, ist es genug, ein Leben in freiwilliger Einfachheit zu leben, ohne auch daran zu arbeiten, die Strukturen zu verändern, die so viele Menschen zwingen in unfreiwilliger Armut zu leben?

Die Errichtung einer gerechten internationalen ökonomischen Ordnung ist ein notwendiger und unverzichtbarer Bestandteil, um eine friedvolle Welt zu errichten. Gewalt in all ihren Formen - imperialistische, gesellschaftliche und zwischenmenschliche - wird untermauert durch den kollektiven Drang nach wirtschaftlichem Reichtum und politischer Macht. Es gibt eine Geschichte aus den frühen Schriften, die dies illustriert. Fünf Jahre nachdem Buddha die Erleuchtung erlangt hatte, kehrte er in seine Heimatstadt zurück und fand den Stamm seiner Mutter, die Koliyans im Krieg mit dem Stamm seines Vaters, den Sakyans. Der Konflikt war ausgebrochen, weil die Sakyan und Koliyanbauern sich nicht darüber einigen konnten, wer von ihnen den Rohini-Fluss in ihre Reisfelder lenken dürfe. Beide bestanden darauf, dass ihre Ernte reifen würde durch eine einmalige volle Wässerung, danach könne die andere Seite den Fluss umleiten. Die Bauern begannen sich gegenseitig zu beschuldigen bis, durch die Beschimpfungen schließlich in Wut geraten, die Stammeskrieger aufeinander losstürmten, um ihre Ehre zu retten. An diesem Punkt griff Buddha ein. Die Krieger senkten verlegen ihre Waffen als ihr erleuchteter Verwandter sie nach der Ursache ihres Streits befragte. Als er entdeckte, dass der Grund das Wasser war, fragte er sie, ob das Wasser so wertvoll sei, wie ein einziges menschliches Wesen. Sie antworteten, dass das Leben eines menschlichen Wesens unbezahlbar sei, worauf Buddha entgegnete: "Dann ist es offensichtlich nicht angemessen, dass wegen eines bisschen Wassers Krieger getötet werden, die unbezahlbar sind."

Die Menschen sollten ermutigt werden, die (heute vom Westen propagierte) "Neue Weltordnung" von einer buddhistischen Perspektive aus zu studieren und sich dazu zu äußern, sie daraufhin zu überprüfen, ob sie angemessene oder unangemessene Entwicklungsmodelle anbietet (richtige oder falsche Weisen zu Konsumieren, gerechte oder ungerechte Marktsysteme, vernünftigen Gebrauch oder Missbrauch natürlicher Ressourcen) und welchen grundsätzlichen Weg es gibt, die Übel der Welt zu beseitigen. Wo stehen Buddhisten, wenn es um eine neue ökonomische Ethik auf nationaler und internationaler Ebene geht? Viele christliche Gruppen haben Studien erstellt über multinationale Unternehmen und internationale Banken. Wir sollten von ihnen lernen und ihre Ergebnisse nutzen.

Dritter Grundsatz

Der dritte Vorsatz ist: "Ich verpflichte mich, keine sexuelle Missachtung auszuüben." Wie in den anderen Grundsätzen, die wir in unserem eigenen Leben verwirklichen müssen, dürfen wir auch hier nicht andere ausbeuten und verletzen. Zusätzlich müssen wir die globalen Strukturen männlicher Dominanz und der Ausbeutung von Frauen erkennen. Die Strukturen von patriarchaler Gier, von Hass und Verblendung sind untrennbar verbunden mit der Gewalt in der Welt. Marvin Harris und Eric Ross haben z.B. gezeigt, wie der in einigen Stammeskulturen praktizierte Mord an weiblichen Kindern zur Notwendigkeit von Stammeskriegen führt, um den Überschuss an Männern zu töten, was wiederum die Aufwertung männlicher Stärke und Tapferkeit bewirkt, und dies erneut den Hungertod weiblicher Kinder und die Bevorzugung männlicher Kinder zur Folge hat. (Marvin Harris and Eric B. Ross, Death, Sex and Fertility: Population Regulation in Preindustrial Society, New York, 1987). Ebenso eng verbunden mit dem Patriarchat ist der moderne Militarismus.

Buddhistische Praxis verweist in Richtung auf die Entwicklung erfüllter und ausgeglichener menschlicher Wesen, frei von sozial erlernten 'maskulinen' und 'femininen' Mustern des Denkens, Sprechens und Verhaltens, in Berührung mit beiden Aspekten ihrer selbst.

Vierter Grundsatz

Die vierte Maxime lautet: "Ich verpflichte mich, nicht falsch zu sprechen." Absolute Wahrheit ist letztlich unbegreiflich und unaussprechlich. Für einen Buddhisten bedeutet in Berührung mit der Wahrheit zu sein, gegründet zu sein in einem tiefen, kritischen Zweifel gegenüber jeglichem Glauben und Vorurteil. Indem wir durch die Praxis der Meditation das Erscheinen der Illusionen in uns selbst erkennen, werden wir allen Ansichten gegenüber undogmatischer und offener. Weisheit kann nur erlangt werden durch die freie und offene Übung des kritischen Geistes. Im Vimalakirti Sutra wird den Bodhisattvas empfohlen "sich selbst allen Sekten der Welt hinzugeben, um schließlich jene zu ökumenischer (die Erde umschließender) Toleranz zu wandeln, die in Dogmatismus festgehalten sind." Spirituelle Praxis offenbart die Leerheit jedes stereotypen Feindbilds und zeigt uns die übereinstimmende Anwesenheit gewaltsamer und habgieriger Tendenzen in uns.
Wir müssen auch die Massenmedien betrachten, die Erziehung und die Informationsmuster, die unser Verständnis der Welt prägen. Wir Buddhisten sind weit zurück hinter unseren muslimischen und christlichen Brüdern und Schwestern in dieser Hinsicht. Die muslimischen Pesantran-Erziehungs-Institute in Indonesien wenden islamische und traditionelle Prinzipien in einer modernen Umgebung an, indem sie ihren jungen Leuten die Wahrheit über die Welt vermitteln und eine Vision für die Zukunft entwerfen. Die Quäker kennen eine Praxis des "Gegenüber der Macht die Wahrheit sprechen".

Die Würde des Menschen sollte den Vorrang haben vor der Steigerung des Konsums bis zu dem Punkt, dass die Leute mehr haben wollen, als sie wirklich brauchen. Indem wir Wahrhaftigkeit als Leitlinie benutzen, sollte Forschung auf universitärem Niveau betrieben werden, um der politischen Propaganda und kommerziellen Werbung entgegenzuwirken. Ohne den kostbaren Schatz der freien Rede und freien Presse zu übersehen, müssen wir uns doch dessen gewahr sein, dass wir nicht in der Lage sein werden, die umfassende Indoktrination zu überwinden, die im Namen nationaler Sicherheit und materiellen Wohlstands über uns ergeht, wenn wir nicht Alternativen zu der gegenwärtigen Übermittlung von Lügen und Verzerrungen finden.

Der fünfte Grundsatz

Der fünfte Vorsatz ist, "Ich verpflichte mich, keine Drogen einzunehmen, die das Bewusstsein trüben und nehme mir vor, andere zu ermutigen, ebenfalls ihr Bewusstsein nicht zu benebeln." Im Buddhismus ist klares Bewusstsein ein wertvolles Kleinod. Wir müssen die Kräfte überwinden, die die Selbstvergiftung, den Alkoholismus und die Drogenabhängigkeit fördern. Es ist eine Frage der internationalen Gerechtigkeit und des Friedens. Die Bauern der 3. Welt pflanzen Heroin, Coca, Kaffee und Tabak an, weil das wirtschaftliche Weltsystem es ihnen unmöglich macht, sich zu ernähren, indem sie Reis oder Gemüse anbauen. Bewaffnete Banden treten als Mittelsmänner auf, sie sind häufig ethnische Guerillas, pseudopolitische Banditen, Privatarmeen von rechtsradikalen Politikern oder Revolutionäre der einen oder anderen Art. Der CIA handelte in Vietnam mit Drogen, die burmesischen kommunistischen Guerillas handeln mit Drogen und südamerikanische Revolutionäre handeln mit Drogen. Umfangreiche Kriege, wie etwa der Opiumkrieg (im letzten Jahrhundert in China) wurden von Regierungen ausgetragen, die den Handel mit Drogen aufrechterhalten wollten. Ebenso ernsthaft ist die ökonomische Gewalt, die Bauern zwingt, für den Export Kaffee oder Tee zu ernten wie auch der überbordende Exzess an überflüssiger Zigarettenproduktion, der durch intensive Werbefeldzüge den 3.-Welt-Konsumenten aufgezwungen wird.

Drogenmissbrauch und Verbrechen sind in jenen Kulturen weit verbreitet, die an der ungleichen Verteilung von Reichtum, an Arbeitslosigkeit und entfremdeter Arbeitstätigkeit leiden. Der Kampfeinsatz der US-Armee unter Reagan und Bush gegen den Drogenhandel ist am Ende genauso wirkungslos wie Gorbatschows abgebrochene Kampagne gegen Alkohol am Arbeitsplatz, und zwar aus demselben Grund: beide wenden sich gegen die Symptome nicht gegen die Ursachen. Der Buddhismus macht deutlich, dass die einzig effektive Lösung dieser Probleme nur geschehen kann im Rahmen einer vollständigen Erneuerung humaner Werte.

Die üblichen religiösen Predigten gegen die Gifte bringen uns nirgendwohin. Wir müssen nach innen schauen und wirklich damit beginnen, die Wurzeln von Drogenmissbrauch und Alkoholismus zu erkennen. Zugleich müssen wir die ganze Bier-, Wein-, Spirituosen- und Drogenindustrie untersuchen, um ihre Machtbasis zu identifizieren.

Diese (fünf) grundlegenden ethischen Lehren gelten sowohl für uns als Individuen wie auch als Mitglieder der Gesellschaft. Meine Gedanken über die fünf Grundsätze und wie wir sie auf die Verhältnisse in der heutigen Welt anwenden könnten sind nicht mehr als ein erster Schritt. Ich hoffe, dass die Diskussion über diese Fragen weitergeführt wird. Wir brauchen dringend eine moralische Grundlage für unser Verhalten und unsere Entscheidungsfindung.

Aus Sulak Sivaraksa: SEEDS OF PEACE, Berkeley, 1992, deutsch von Irene Eckert und Franz-Johannes Litsch. 



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