Das Kloster auf der Straße
Erstes Straßen-Retreat in Berlin unter der Leitung von Claude AnShin Thomas

von Andreas Brüning



Es ist kalter Oktober in Berlin-Kreuzberg. Gabriela sitzt im U-Bahnhof Herrmann-Patz und der abendliche Menschenfluß rauscht an ihr vorbei. Die Kapu-ze zieht sie lieber über den Kopf. Ein paar Mal wirft ein vorbeilaufender U-Bahnbenutzer ihr Geld vor die Füße. Eine junge Frau setzt sich spontan zu ihr und hält ihre Hand - einfach so. Mit ein paar Mark und einem warmen Herzen kehrt sie rechtzeitig zur Meditation im Park zurück. Sie ist keine normale Bettlerin, sondern eine von 14 Teilnehmern eines Retreats. Und jeder von ihnen hat 1000,-- DM von Sponsoren erbettelt, um es an Obdachlo-senprojekte weiterzuleiten. Das war die Eintrittskarte, um mit dabei zu sein. Jetzt sitzen sie um eine Bank herum, unter ei-nem pilzartigen Holzbaum in einem öffent-lichen Park und erzählen von ihren Erfolgen und Niederlagen beim Betteln. Alle tei-len die Erfahrung von Ablehnung und Ignoriertwerden.

Der heutige Zen-Mönch Claude AnShin AnGyo Thomas war einst Kommandeur eines Kampfhubschraubers im Vietnam-Krieg. Er erlebte nach dem Ende seines Militärdienstes eine Odyssee, die er selbst "den Krieg nach dem Krieg nennt". Als er hochdekoriert und körperlich genesen 1969 aus dem Militärdienst entlassen wurde, traf er auf dem Flughafen New York beim Heimflug auf eine junge attraktive Frau, die ihm ohne ein Wort zu sagen ins Gesicht spukte. Sie war eine Friedensaktivisten und Vietnam-Kriegsgegnerin. Clau-de Thomas beruhigte sich damals mit etwas Whiskey in der nächsten Bar. Er ist ein athletischer untersetzter Mann. Hinter einer runden schwarzen Brille mit Sportbügeln blicken blaue Augen hervor. Sein ra-sierter Kopf, wie er für Mönche in der Soto-Zen-Tradition üblich ist, und sein wohlwol-lendes Lächeln haben etwas Einnehmendes.
In Berlin leben ca. 30.000 Menschen auf der Straße. Für fünf Tage schlüpft eine Gruppe von Menschen unter Leitung von Claude in die Umstände der Obdachlosigkeit, indem sie alle gewohnten Annehmlichkeiten und Sicherheiten zurücklassen und dies freiwillig.

In freudiger Ausgelassenheit teilen sich Gabriela und Jens die erbettelten Lebens-mittel, wie Wasser, Obst, Döner und Kuchen. Der Platz unter einem Unterstand soll auch der Schlafplatz sein. Er schützt vor dem beginnenden Regen, aber nicht vor dem eisigen Wind, der ihnen jegliche Wärme nimmt. Gabriela schützt sich mit einer Unterlage aus Kartonpappe, aber es ist hart auf dem Boden. Altes Zeitungspapier hat sie in ihre Hose gestopft, um ihre Nieren zu wärmen. Sie kann nicht schla-fen. Wie ein Kätzchen rückt sie eng an die anderen heran. Als der Morgen kommt, erreicht die Kälte den schmerzhaftesten Grad. Die Angst vor dem Unbekannten, vor Skinheads, Neonazis oder streunenden Jugendbanden tut das übrige.

Gabriela wird von Zigarettenrauch ge-weckt. Noch im Halbschlaf denkt sie, bei uns raucht doch niemand und richtet sich mit gesträubten Haaren auf. Ein obdachloser Mann ist zu den Retreat-Teilnehmern gestoßen. Inzwischen ist die Sonne hervor gekommen. "Obdachlose Menschen decken sich mit den wärmenden Strahlen der Sonne am Tage zu", erzählt der Zen-Mönch Claude AnShin Thomas. Am Morgen leitet er als Meditationslehrer die erste Zeremonie. Die Gruppe sitzt im Kreis auf Kartonunterlagen. Jens, der Glockenmeis-ter, schlägt dreimal auf eine leere Martini Flasche, die er auf der Strasse gefunden hat. Dann Stille. Ohne Uhr ist Jens auf sein inneres Zeitgefühl angewiesen. "Kling, Kling" - Töne, die zur nächsten Meditation einladen: die "Pforte des süßen Nektars", eine Anrufung zur Manifestation der zehn Buddhas. Diese Zeremonie bittet für alle hungrigen Geister, daß sie gesättigt und geheilt sein mögen. Die hungrigen Geister sind alle Menschen, lebendig oder tod, die leiden oder gelitten haben. Andere Orte für Meditationen waren am Sowjetischen Ehrendenkmal und am ehemaligen Gestapo-Hauptquartier.

Die nächste Nacht im Tiergarten wird für Claude AnShin Thomas zu einem Infer-no der Erinnerungen. Es knallt, pfeift und kracht hohl und furchterregend. Am Himmel blinken Tausende von Funken. Als 17jähriger hatte seine Einheit in Vietnam nachts ein Lager aufgebaut und wurde in den frühen Morgenstunden vom Vietkong aufgerieben. Seit dieser Zeit kann er nachts nicht mehr schlafen. Im gegenwär-tigen Moment sind die Retreat-Teilnehmer, Kinder der Feinde seines Vaters, der als Soldat im 2. Weltkrieg gegen Deutschland kämpfte, seine Verbündeten. Gabriela umarmt ihn. Das Feuerwerk zur Feier des 7. Jahrestags der Deutschen Wiedervereinigung spiegelt sich noch einige Minuten in ihren Augen, bevor es über dem Reichstag verpufft .
Am dritten Morgen zieht die Gruppe zum Zoologischen Garten und führt ihre Zere-monie in der Nähe des Haupteinganges durch, dort wo sonst obdachlose Menschen sitzen, trinken und betteln. An die-sem Morgen kommt ein obdachloser Mann in die Gruppe und meditiert mit. Mike ist 35 Jahre, Alkoholiker und hat AIDS. Sein Sohn bringt ihm manchmal eine Flasche Korn zum Zoo. Er sagt:" Es gibt keine Lie-be in mir; ich möchte das überall Frieden ist! Ich habe Angst zu sterben". Die aggressive Ausstrahlung von vorbeigehenden Passanten und das Wissen, daß Mike, so wie er lebt, schon im Sterben begriffen ist, läßt bei Gabriela Tränen aufsteigen.

Am letzten Tag bieten die Retreat-Teilnehmer selbst, mit Hilfe einer buddhis-tischen Gemeinschaft Berlins in den Räu-men der Heilig-Kreuz-Kirche ein Essen für obdachlose Menschen an. Es gibt ein indi-sches Gemüsegericht, Kuchen und Trauben. 25 Obdachlose finden den Weg in die Heilig-Kreuz-Kirche und essen das fremdländische Mahl mit Genuß.

Es folgt eine öffentliche Runde zum Thema Obdachlosigkeit. Die Retreat-Teilnehmer selbst sitzen am Boden auf ih-ren liebgewonnenen Pappkartons im Halb-kreis unter der Kuppel der Heilig-Kreuz-Kirche. Das ungepflegte und wirre Haar steht bei manchen zu Berge oder klebt an der Kopfhaut. In ihrer Mitte sitzt mit seinem ausgewaschenen roten Kapuzenpullover und seinem Zehntage-Bart der Mönch der Soto-Zen Tradition. Seine Gemeinde sind die 150 gebannten Zuhörer, unter ihnen auch der Pfarrer, der die Kirchenräume zur Verfügung stellte. Jeder der Retreat-Teilnehmer berichtet von seinen Erfahrun-gen. Gabriela spricht in den hallenden Raum hinein: "Ich habe ihren Hunger nach Liebe wahrgenommen, aber es ist eine Herausforderung für mich, die Vorurteile aufzugeben, hinter denen ich mich sonst verstecke. Die Gruppe und besonders die spirituelle Praxis ermöglichte mir dieses sehr konkrete soziales Engagement. Ob die Kraft zur Realisierung eines Obdachlo-senprojekts reicht, weiß ich noch nicht."

Am Ende schlägt der Glockenmeister Jens die Glocke und so klingt die leere Flasche Martini im hohen Kirchenraum und Stille folgt.



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