Über mein Sterben.
Eine Annäherung an Verzweiflung und Hoffnung


Einst war ich im Unendlichen.
Dann kam ich in diese Welt.
Hier bleibe ich vielleicht noch eine Weile.
Dann geschieht es wieder, das Ungeborene ...
Was kommt, das geht -
so sagt das kosmische Gesetz.

Warum soll ich soviel nachsinnen, soviel Auf-hebens machen von meiner einzigen Gewiss-heit, dem Abgang in den Tod?

Nun, der Tod selbst ist nicht mein Problem. Er kann sogar eine Wohltat sein für den Greis, der seine Lebensaufgabe erfüllt hat - oder für den Menschen, der keine Lebensfreude mehr hat. "Wenn nur das elendige Sterben nicht wäre" (E. Kübler-Ross).

Nachdem ich Sterbende begleitet habe, sind meine Seifenblasen vom gelassenen Sterben geplatzt.
"Silbern, leicht, ein Fisch
zieht nun mein Nachen dahin"
 träumte Nietzsche, bevor er umnach-tet zusammenbrach.

Ich will nicht verrecken in Windeln
Ich will nicht würdelos zerdämmern
Ich will nicht zermürbt zerfressen sein
Kein Galeerensklave sein auf Intensivstation!

Ich habe Angst vor Herzanfällen, Lähmungen, Atemnot.
Ich habe Angst vor unversöhntem
Ex-und-Hopp.
Ich habe Angst vor heimtückisch kriechendem Zerfall.
Ich habe Angst vor dem Absturz ins Bodenlose.
Ich habe Angst vor dem Suizid.

Gewiss kann ich rechtzeitig Vorsorge treffen. Nicht nur für die Notfallsorge um Pflege und Schmerzlinderung, sondern vor allem auch für den Abbau des stolzen, vorteilsbedachten Ich. Ob ich schwer oder leicht, versöhnt oder unver-söhnt sterbe, wird sich wohl nicht zufällig ereignen; und nicht erst dann, wenn es unwi-derruflich mit mir zu Ende geht. Eher werde ich wohl versöhnt und friedlich sterben können - so meine Hoffnung - wenn ich im Laufe des Le-bens eine gelassene Grundhaltung erworben habe.

Diese Grundhaltung verlangt den Abbau von Ballast und Tand, von überflüssigem Konsum und Wichtigtuerei. Sie macht es möglich, Un-rast zu dämpfen und all die vielen Nebensäch-lichkeiten des Lebens mit einer Prise Humor zu nehmen. Sie trägt dazu bei, sich von negativen Gewohnheiten wie Neid, Heuchelei, Hass und Aggressivität zu lösen. Und sie hilft, Zuwen-dung gegenüber Schwächeren zu üben und großzügiges Teilen von Zeit und Geld.

Ich bin weit davon entfernt, in den Extremsituationen großer Schmerzen über eigenen oder mitmenschlichen Verlust Gelassenheit zu bewahren. Aber ich lerne, diese unvermeidlichen Situationen anzunehmen, Unglück, Krankheit und Verlassenheit schmerzlich zu akzeptieren.
Meditation kann sehr hilfreich sein beim Ertra-gen von schwerstem Verlust. Sie fordert Selbstentäußerung, ein sich Beugen und Los-lassen von Selbstkontrolle, Willen, Gedanken und Gefühlsstrebungen. Es geht in der Tat um nichts weniger als "das Herz zum Grabe des Herzens selbst zu machen"(Hegel). Tiefe Medi-tation gleicht dem Sterben, weil ich meine ganze Identität in die abgrundlose Leere fallen-lassen muss. Indem sich die endliche Existenz in der Versenkung aufgibt, wird sie Teil des Unendlichen. ,,Das Nichtsein des Endlichen ist das Sein des Unendlichen" (Hegel).

Das Paradox des Lassens begründet den Weg: Je mehr du loslässt
(von Geliebtem), desto mehr empfängst du (an Gelassenheit). Anders ausgedrückt:
Je weniger du hast,
je weniger du hasst, und
je weniger du begehrst,
desto freier wirst du.
Verlusterfahrung und Meditation ähneln dem Sterben. Aber es bleibt der einzigartige Unter-schied: beim Sterben gibt es keinen Aufschub und kein Zurück, kein Dennoch oder Nochmal. Wegen dieser Einzigartigkeit können alle Be-mühungen, gelassenes Sterben durch Meditati-on und bewusste Lebensführung gleichsam einzuüben, scheitern - so wertvoll sie auch sein mögen. Was in der realen Sterbesituation mit mir geschehen wird, ist völlig ungewiss. Die "Nahtoderlebnisse" von Menschen, die nach einem schweren Unfall aus einem Jenseits wunderbares, strahlendes Licht wahrgenommen haben, beruhigen mich nicht. Das schreckliche Sterben der so verdienstvollen Ärztin Elisabeth Kübler-Ross hingegen hat mich sehr berührt: Nachdem sie zeitlebens mit missionarischem Eifer Hospizdienst praktiziert und gelassenes Sterben gepredigt hat, siecht sie seit fast zwei Jahren gelähmt dahin und klammert sich am Rest ihres Lebens fest.

Ich ringe mit der Ahnung, dass in meiner in-nersten Tiefe - dort, wo ich mich als Teil des Ganzen, All-Einen fühlen darf - Befreiung ist. Der kritische Verstand aber fragt: Wird diese innere Freiheit, der ich mich zu nähern versu-che, auch dann halten, wenn der Tod heran-kommt "und nun aufhebt seinen schweren Hammer und die Stunde schlägt" (Matthias Claudius)?

Hinter der bedrohlichen Gewissheit über den Verlauf meines eigenen Sterbens steht existen-tielle Angst: Bleibt mir ein Restchen Würde, wenn mich der Körper im Stich gelassen hat? Halte ich die Verzweiflung aus, wenn ich aus-weglos zwischen Skylla und Charybdis schwe-be: Hier unerträgliche Schmerzen, die meine Menschenwürde brechen - dort eigenmächtiger Lebensabbruch, der die kosmische Ordnung verletzt (auch wenn ich ihn als letzten Ausweg nicht ausschließen will).

Wer trägt den Gleichmut herbei,
wenn der Abschied an die Kehle springt?
Wer löst die panische Angst,
wenn der Herzmuskel rast?
Wer schenkt mir gütige Hände,
wenn meine gebrochen sind?
Und wer die richtige Dosis Morphin?

Im Sterben endet jede Idylle,
jede Schönfärberei.
Für jeden malt die Knochenhand
Verwesung auf die bleiche Wand.

Und dennoch bleibt mir vom uralten Traum gelassenen Sterbens ein Funken Hoffnung, über die Verzweiflung hinweg ans andere Ufer zu gelangen.

Möge mich Demut
  wandeln
und das tiefe Schweigen,
das schwebende Warten
vor dem grundlosen Grund
Das All-Eine, das geschieht.

Für den Abschied des Lebens imaginiere ich mich hinein in den Großen Strom, in dem Leben und Tod, Fluss und Meer eins werden:

Schau in dein Herz und betrachte den Strom,
der langsam fließt und ohne - Wiederkehr.

Schau in dein Herz, wo Flucht und Zuflucht bricht.
Schau in dein Herz, wo das Geh-heim-nis spricht.

Fließe dahin im Großen Strom durch Dunkel und Berge von Angst in die offene Weite, ins unendliche Meer.

Fließe dahin im Großen Strom, bis hinter allem Schrecken
du das leise, leise Lächeln spürst ...

Über Ratio und Zweifel hinweg suche ich Zuflucht bei der Größeren Kraft, die in mir ist, aber nicht von mir:

Bleibe bei mir, wenn es still wird.
Bleibe bei mir, wenn ich still bin.
 



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