Franz-Johannes Litsch
Buddhismus und Gesellschaft - Teil I

"Der Bodhisattva soll in bezug auf alle Wesen die Idee entwickeln: dies ist meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, meine Tochter, ja dies bin ich selbst. Wie ich selbst von allen Leiden gänzlich frei sein möchte, so möchten alle Wesen frei sein." (Prajnaparamita Sutra)

Gesellschaftlich bedingtes Entstehen

Die Essenz der umfangreichen Lehren des Buddha ist die Lehre von paticca samuppada, vom wechselseitig bedingten Entstehen aller Phänomene. Die darin zum Ausdruck kommende Sichtweise ist für das Verständnis der Einsichten des historischen Buddha wie auch aller nachfolgenden Schulen des Buddhismus so grundlegend, dass letztlich keine einzige Lehraussage wirklich verstanden werden kann, wo diese eine nicht verstanden und mitberücksichtigt wird.

"Wenn das besteht, so entsteht jenes. Durch das Entstehen von jenem wird dies hervorgebracht. Wenn jenes nicht ist, so entsteht auch dies nicht. Durch das Aufhören von jenem wird dieses beendet."  )

In dieser Einfachheit und Kürze beschreiben die buddhistischen Grundtexte des Pali-Kanon die Quintessenz der Erkenntnis Shakyamuni Buddhas über sich selbst und die Wirklichkeit, die Lehre vom "wechselseitig bedingten Ent-stehen" paticca samuppada oder "miteinander in Beziehung stehen" idappaccayata. ) Sie ist in den Schriften an zahlreichen Stellen, in ähnli-chen Worten und in unterschiedlichen Zusammenhängen zu finden.

Diese Lehre besagt: Alles ist durch anderes bedingt. Alles ist von anderem abhängig, wird durch anderes bestimmt und entsteht und ver-geht in Abhängigkeit von anderem. In anderen Worten: Alles ist mit allem verbunden. Alles steht mit allem in Wechselbeziehung und Austausch. Alles verdankt seine Existenz anderer Existenz. Dies führt zu der Aussage, nichts existiert alleine oder kann alleine existieren. Nichts existiert aus sich und für sich selbst. Nichts entsteht und vergeht aus sich heraus oder für sich allein. Alles was geschieht oder existiert, geschieht und existiert nur innerhalb von Beziehungen.

Insofern jedes einzelne Phänomen der Wirk-lichkeit Ergebnis und Ausdruck von Wechsel-beziehung ist, gehen nach buddhistischer Auffassung auch alle kulturellen, gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen oder ökologi-schen Verhältnisse auf diesem Planeten Erde aus wechselseitig bedingtem Entstehen hervor. Paticca samuppada, bedingtem Entstehen verdanken sie ihr Entstehen, ihre Veränderung und ihr Verschwinden. Die Gesetzlichkeit, die die Gesellschaft prägt, ist keine andere als die, die den Einzelmenschen bestimmt und die ebenso den Prozessen des Bewusstseins wie denen der Natur und der gesamten Wirklichkeit Zugrundeliegen. Sie repräsentiert keine ewige göttliche Ordnung oder Offenbarung, wie sie von die meisten anderen religiösen Überlieferungen verkündet wird, sondern sie ist nichts anderes als die natürliche Gegebenheit aller Erscheinungen.

So lassen die altindischen vedischen Schriften (Rigveda), die die Gesellschaft zur Zeit des Buddha prägten, die herrschende Kastenord-nung direkt aus der Erschaffung der Welt her-vorgehen. Die Kasten entstehen aus der göttli-chen Teilung des Urmenschen Purusha und bilden dabei eine Hierarchie der spirituellen Reinheit ab. ) Wie anders der in die Hauslosigkeit gegangene Fürstensohn Gautama Buddha: Im Aggaññya Sutta liefert er eine erstaunlich modern anmutende, kultur- und sozialgeschichtliche Beschreibung der Entstehung der menschlichen Kasten- oder Klassengesellschaft. Nach einer noch stark mythisch geprägten Darstellung der Entstehung des Menschen setzt Buddha (unserer heutigen Sicht entsprechend) an den Anfang der menschlichen Gesellschaftsform die Sammlerkultur und lässt aus dieser heraus die spätere Agrarkultur entstehen. Und er schildert, wie aus zufriedenen aber bescheidenen Lebensverhältnissen besitzloser Frühzeit durch den Übergang zum Ackerbau die Unterschiede und Spaltungen der Klassen-gesellschaft und die Institution des Staates hervorgehen. Und zwar dadurch, dass die Menschen auf Grund von Nahrungsmangel und Habgier beginnen, ihre Reisfelder aufzuteilen, gegeneinander abzugrenzen und die Idee von Privatbesitz entwickeln, was zu Anhäufung, Streit, Lüge und Diebstahl führt. Um ihre Aus-einandersetzungen zu schlichten oder auch anzuführen, brauchen sie sodann den "Feld-Herrn", d.h. den Herrscher und Staat. Doch entsteht schließlich aus verbreiteter Unzufrie-denheit über das Leben in dieser Gesellschafts-form der Pfad und die Gruppe derer, die in die Hauslosigkeit gehen und im Aufgeben aller Anhaftung den Weg der Befreiung suchen.
Nicht nur dass Buddha hier, 2400 Jahre vor der Entstehung moderner Sozialwissenschaft eine rein rationale, historische, sozialkritische Her-leitung gesellschaftlicher Zustände vornimmt, er liefert auch eine nüchtern soziologische Erklärung für die Entstehung seines eigenen Weges und der geistig-sozialen Bewegung, die er ins Leben gerufen hat. Die Beschreibung, die der Buddha hier vornimmt, ist im Einzelnen, dem Wissensstand der damaligen Zeit entsprechend, natürlich noch stark mythisch gefärbt und wird von ihm in der Form von Legenden und Gleichnissen übermittelt. Aber ihre Herangehensweise ist rein rational-analytisch. Budd-ha versucht die gesellschaftlichen Erscheinungen als aus gesellschaftlichen Prozessen und Zusammenhängen hervorgehend abzuleiten, er verkündet keine Offenbarungen oder Glaubens-sätze aus übernatürlicher, ewiger, göttlicher Quelle über die menschlich-irdische Ordnung oder Unordnung.

Im Mahanidana Sutta, dem längsten Lehrtext zu paticca samuppada beschreibt der Buddha das bedingte Entstehen sowohl im individuellen wie im sozialen Bereich. Beim letzteren zeigt er anschaulich auf, wie aus dem Begehren, Besitzdenken, Eigentum, Geiz, Bewachen, Bewaffnung, Zank, Streit, Beleidigung, Verleumdung, Lüge und Gewalt, kurz all die uns vertrauten Phänomene moderner Haben-Gesellschaft entstehen.

In gleicher Weise schildert Buddha im Cakkavatti Sutta das Entstehen aller Arten von Ver-brechen, von Diebstahl, Gewalt, Mord, Hass, Lüge, Verleumdung, sexueller Missbrauch, Respektlosigkeit und falscher Ansichten und deutet sie als Auswirkungen von Habgier der einen und Armut der anderen. Allein sieben Mal benennt er in diesem Sutta Armut und ungerechte Verteilung der Ressourcen in der Gesellschaft als die Ursache kulturellen Ver-falls und sozialer Unruhe. Gleichzeitig spricht sich der Buddha hier (vor 2500 Jahren) bereits für eine wirtschaftslenkende Rolle des Staates zugunsten sozialer Gerechtigkeit, für den staat-lichen Schutz der Tiere und Umwelt und für die Notwendigkeit der Begründung gesellschaftli-cher Ordnung und staatlicher Politik auf ethi-schen Prinzipien aus.

Ähnliche Zusammenhänge beschreibt Shakyamuni im Vasettha Sutta. Im Kutadanta Sutta zeigt er anhand der Geschichte eines Königs, der sinnlose Opfer für die Götter verschwendet, anstatt die Not der Armen damit zu überwinden, wie er dadurch einerseits der Religion einen schädlichen Dienst erweist, als auch den eigenen Sturz durch die Empörung der Notleidenden hervorruft. Dabei spricht sich der Buddha hier ausdrücklich dafür aus, dass die Menschen eines Landes ungeachtet ihres sozialen Status die politische Autorität ausüben sollten, wenn der König dem allgemeinen Volkswillen nicht folgen würde. Damit stellt dieses Sutta auch eines der ältesten Plädoyers der Menschheit für die demokratische Staats-form ja gar für die demokratische und soziale Erhebung dar.

Die zentrale Bedeutung von paticca samuppa-da in der buddhistischen Lehre zeigt, dass eine isolierte, individualistische Betrachtung des Menschen für den Buddhismus nicht möglich ist. Wenn der Buddhismus den einzelnen Menschen sieht, sieht er immer zugleich die Men-schen in ihrer Beziehung zueinander, d.h. innerhalb der menschlichen Gemeinschaft und diese wiederum innerhalb der gesamten ökolo-gischen Lebenswelt.

Die Welt als Netzwerk

Die Weiterentwicklung des indischen Früh-buddhismus zum ostasiatischen Mahayana brachte auch eine Vertiefung im Verständnis von paticca samuppada und damit eine Vertie-fung im Verständnis der Ganzheit der Lebenswelt. Die finden wir insbesondere im Avatamsaka-Sutra und in der chinesischen Hua Yen Philosophie. Das Blumengirlanden-Sutra (Avatamsaka) richtet sein Augenmerk insbesondere auf den Aspekt der durch das wechselseitig bedingte Entstehen gegebenen Beziehung des Teils zum Ganzem und umgekehrt. )

Der heutige vietnamesische Dharma-Lehrer Thich Nhat Hanh hat uns diese Sichtweise in besonders leicht fasslicher Weise zugänglich gemacht. Er gebraucht dafür immer wieder das Beispiel des hier vor uns liegenden Papiers. ) Das Papier kann nicht existieren ohne den Baum, und der nicht ohne die Erde, die Sonne, den Regen usw.. Weiter braucht es den Holzfäller und der wiederum existiert nicht ohne seine Säge, nicht ohne Nahrung, Kleidung oder ohne seine Mutter. Dann braucht es die, die aus dem Holz das Papier herstellen, die es handeln, transportieren und bedrucken usw. Und wenn wir das alles immer weiterverfolgen, erkennen wir letztlich, dass das Papier eine unendliche Kette von Bedingungen voraussetzt, um als das zu existieren, als das es erscheint. Ja, dieses eine Papier setzt die gesamte Erde und den ganzen Kosmos voraus. All das ist notwendig, damit eine einziges Ding so ist, wie es ist. Damit enthält das Papier in sich auch all die Phänomene und Wesen, die es möglich gemacht haben. Dieses Papier enthält so das gesamte Universum.

Auch die Probleme unserer heutigen Welt können wir im vorliegenden Papier finden. Denn es ist, selbst wenn es Recyclingpapier ist, aus dem Holz von Bäumen gemacht, die dafür gefällt wurden. Mit den gefällten Bäumen haben zahlreiche Wesen ihren Zufluchtsort, ihre Brutstätte oder ihre Nahrung verloren. Menschen haben vielleicht wichtige Lebensbedingungen, wertvolles Bauholz, ihr einziges Heizmaterial oder "nur" ihre gesunde, frische Atemluft verloren – oder auch buddhistische Waldmönche ihren Ort der Praxis. Bei der Papierherstellung wurden eine Menge Chemikalien und Wasser verbraucht, Flüsse wurden verunreinigt, Fische starben und das Trinkwasser von Menschen wurde verdorben. Andererseits sichert es Druckern und Verlagen ihre Existenz und wir haben die Möglichkeit, Gedanken über die Zukunft unserer Welt auszutauschen.
Das bedeutet, daß in jeder Erscheinung, jedem Ding, jedem Wesen alle anderen Erscheinungen, Dinge, Wesen mitenthalten sind. Teil und Ganzes enthalten und durchdringen sich gegenseitig. Nichts im ganzen Universum existiert, was nicht das ganze Universum zur Bedingung hat. Existiert auch nur eine einzige Erscheinung im Ganzen nicht mehr oder anders, so ist das Ganze nicht mehr das gleiche Ganze sondern ein anderes.

Es bedeutet weiter, dass alles so existiert, weil all das gleichzeitig existiert. Die scheinbar getrennten Erscheinungen sind zutiefst miteinander verbunden, weil und indem sie gleichzeitig entstehen oder existieren. Nur weil und indem das eine und das andere gleichzeitig existieren, existiert das Einzelne wie auch das Ganze. Die Erscheinungen verdanken ihre Existenz ihrer Gleichzeitigkeit.

Das Avatamsaka-Sutra gelangt zuletzt zu einem mythischen Bild, nämlich dem vom "Netz des Indra". Dies bezeichnet ein prachtvolles Netz, über das der indische Götterkönig Indra ver-fügt, dessen Knoten durch Edelsteine gebildet werden und von denen jeder einzelne alle anderen reflektiert und jeder so das ganze Netz in sich enthält. Damit findet der Buddhismus bereits im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zu einer holistischen Netzwerkauffassung von der Wirklichkeit. Auf der Suche nach einem Wort, das diese uralte Einsicht mit unserer modernen Sichtweise vereint, gelangte Thich Nhat Hanh zu dem treffenden Begriff "Intersein". )

Erkennen wir die Wirklichkeit als ein umfassendes Netzwerk von Beziehungen, dann be-deutet das auch: ist ein Teil oder eine Beziehung verändert, so ist die ganze Wirklichkeit verändert. Darum können wir nie davon sprechen, dass wir als einzelne keinen Einfluss und keine Bedeutung im Ganzen hätten. Ein Gedanke, ein Wort, eine Tat kann die ganze Welt, die ganze Menschheit, die ganze Geschichte verändern, zum Leiden hin oder zur Befreiung hin.

Um eben dies letztere und nur um dies ging es Buddha. Die Lehre von paticca samuppada erfüllt ihre eigentliche Bedeutung nicht darin, dass sie uns eine hervorragende theoretische Grundlage für das Verständnis der Wirklichkeit liefert, sondern dass sie uns die entscheidende geistige Einsicht für das Überwinden von dukkha, von Leid in der Welt und in unserem Leben bietet. Dabei muss Shakyamuni Buddha wiederum die Wahrnehmung von dukkha nicht durch einen zusätzlichen theoretischen Ansatz in seine Lehre einführen, sondern auch die Lehre über die Existenz von dukkha, die Erste Edle Wahrheit von der Existenz des Leidens in allen Erscheinungen ist (wie wir bereits sahen) in der Tiefe der Bedeutung von paticca samup-pada enthalten.

Ich bin der Andere

Bedingtes Entstehen zeigt sich uns, Buddhas Lehre entsprechend in dreifacher Weise: 1. als annica, als die Unbeständigkeit, Vergänglichkeit, Nichtdauer aller Erscheinungen; 2. als anatta, als das Nicht-Ich, die Nicht-Identität, die Leerheit aller Erscheinungen; 3. als dukkha, als das Unbefriedigte, Unvollkommene, Leidhafte aller Erscheinungen. Diese "Drei Daseins-Merkmale" (tilakkhana) oder auch "Dharma-siegel" stellen einen weiteren Schlüssel dar für das Verständnis der Buddha-Lehre.

Jedes dieser Merkmale geht aus dem Charakter von bedingtem Entstehen hervor. Wären alle Erscheinungen, Dinge und Wesen nicht unbe-ständig (annica), gäbe es kein Entstehen oder Vergehen, ja es gäbe keine Existenz. Denn die Erscheinungen existieren nur, weil sie im Fluss sind, weil und während sie in Bewegung sind, weil und solange sie sich verändern und sei dies auch unmerklich. Was still steht, stirbt in Wahrheit ab, es lebt nur, was sich verändert. Und was stirbt oder verschwindet, macht ledig-lich neuem Leben Platz. So gehört Sterben zum Leben. Tatsächlich aber stirbt und verschwindet nichts (endgültig), sondern alles wandelt sich nur in anderes um, kommt in anderer Gestalt zur Wiedergeburt.

Wenn nichts je eine endgültige, dauerhafte, feste Gestalt oder Existenz hat, dann gibt es auch keine endgültige, dauerhafte, feste Identität (anatta). Was wir als Ich wahrnehmen oder bezeichnen, ist in Wahrheit ein unbeständiger, in Wechselbeziehung stehender und von keiner eindeutigen Grenze bestimmbarer Prozess. Mehr noch, das Ich hat nicht nur keine zeitliche Stabilität und Identität sondern auch keine reale räumliche Begrenzbarkeit. Das Ich ist wie alles bedingt und entstanden durch anderes, durch Nicht-Ich. All seine Existenz hat das Ich ande-rem zu verdanken.

Was als feste geistige Identität, als "mein Den-ken" erscheint, ist in Wahrheit ebenso wenig meines, wie das, was in festen körperlichen Grenzen als "mein Körper" erscheint. "Mein Geist" verdankt seine Existenz anderen Menschen (Erziehern, Lehrern, Freunden, For-schern, Autoren usw.) wie anderen Wesen und Dingen (Natur, Kultur, Technik usw.). Ebenso verdankt der Körper seine Existenz der Existenz anderer Menschen (Eltern, Bauern, Schneider, Händler, Ärzte usw.) wie anderer Wesen und Dinge (Mineralien, Pflanzen, Luft, Wasser, Sonne usw.). Sie alle liegen nach herkömmlicher Auffassung außerhalb "meiner" Grenzen, gehören nicht zu "mir" und können doch so sehr zum Bestandteil "meiner selbst" werden, dass sie geradezu das ausmachen, was als "Ureigenes" betrachtet wird.

Thich Nhat Hanh sagt darum, dass "mein Ich" sich aus "Nicht-Ich-Elementen" zusammen-setzt, dass das, was "meine Person" ausmacht, gebildet wird aus den Elementen, die nicht meine Person ausmachen. Das heißt, ich bin das, was ich nicht bin, mein wahres Selbst ist das Nicht-Selbst, mein wahres Ich ist der Andere.
Im Diamantsutra finden wir so den Satz: "Der Buddha ist nicht der Buddha, darum ist er der Buddha." Die Lehre vom Nicht-Ich enthält die wichtigste und revolutionärste Konsequenz der Sichtweise vom bedingten Entstehen. Zuge-spitzt auf diesen Aspekt macht sie die einmali-ge Bedeutung Buddhas und des Buddhismus aus und sie bildet den Kern dessen, um den es dem buddhistischen Weg des Erwachens geht. Dogen Zenji, der berühmte Begründer des japanischen Soto-Zen fasste all dies in die wenigen Worte:

"Den Buddha-Weg erkennen, heißt sich selbst erkennen.
Sich selbst erkennen, heißt sich selbst vergessen.
Sich selbst vergessen, heißt sich in allem finden".

Indem gerade diese Sichtweise im Zentrum des buddhistischen Weges und der durch Buddha begründeten Lebensform steht, zeigt sich hier endgültig, welche enorme soziale, gesellschaftliche, menschheitliche, ökologische, ja universale Dimension die Lehre und Praxis des Buddhismus hat.

Buddhas Anatta-Lehre ist eine entschiedene Absage an die Auffassung, die menschliche Gemeinschaft bestünde aus getrennt voneinander existierenden Individuen oder Ich-Einheiten (Ich-Atomen) ) - von in sich geschlossenen, getrennt voneinander existierenden, autonom agierenden Entitäten, die gleichsam wie stabile aber bewegliche Billardbälle lediglich durch Außenkontakte aneinander stoßen und äußer-lich aufeinander wirken würden. Es ist eben diese Selbsttäuschung (im doppelten Sinne), die Buddha als die Wurzel des menschlichen Leids und aller Probleme in der Welt ausmach-te.

Unsere gespaltene Wirklichkeit

Die Ursache allen Leids ist die Abspaltung unserer Existenz vom anderen, ist unsere Ideo-logie, wir seien für sich selbst existierende und aus sich selbst existierende Wesen. Exakt dieses Selbstbild ist aber das Grundkonzept der modernen individualistischen Gesellschaft. Trennung und Abspaltung beherrscht unsere gesamte Haltung zur Wirklichkeit: Innenwelt und Außenwelt sind getrennt, Subjekt (Beobachter) und Objekt (Beobachtetes) sind getrennt, Mensch und Natur sind getrennt, Geist und Materie sind getrennt, Verstand und Gefühle sind getrennt usw. Die Wirklichkeit ist von uns abgespalten und in sich aufgespalte-nen. Sie ist zerbrochen, zwangsläufig unheil.

Das Konzept des abgetrennten Ichs übertragen wir auf die gesamte Wirklichkeit. Unser Den-ken trennt, zerlegt, analysiert, isoliert, spaltet alles - bis zum Kern des Atoms. Die Kernspal-tung, die Atombombe ist tatsächlich die 'ultima ratio' (höchste Vernunft) unseres Denkens. Einseitige Rationalität, Dualismus, Logik des Entweder-Oder, Verabsolutierung von Mei-nungen und Positionen, Herausbildung von Ideologien und Dogmen kennzeichnen das Denken in der Logik des Ich-Konzepts.

Auf Abspaltung, Reduktion und Vereinseitigung beruht auch unser Alltagsleben. Gesell-schaft und Kultur sind in zahllose Ressorts aufgeteilt, in sich gegenseitig fremde Bereiche. Erziehung und Bildung sind abgetrennt von der Entfaltung der Persönlichkeit, die Arbeitswelt ist abgetrennt von Schaffensfreude und Sinnerfüllung, der Beruf vom Privatleben, die Wissenschaft von der Alltagserfahrung, die Wirt-schaft von den Bedürfnissen der Menschen, die Moral von der Politik, die Kunst vom Volk und nicht zuletzt die Religion vom Leben.

Die westliche Zivilisation hat mit dem Prinzip "divide et impera - teile und herrsche" die Welt erobert, nicht nur alle Bereiche unseres Lebens sondern auch alle Länder, Völker und Kulturen und darüber hinaus die gesamte Natur und menschliche Umwelt. Denn das Leitprinzip des spaltenden und sich abspaltenden Ichs ist es wiederum, sich möglichst alles zur grenzenlosen Nutzung und Verfügung anzueignen. Unter der Ideologie der "Freiheit der Persönlichkeit", wurde in unserer Gegenwart die unbeschränkte Freiheit von Besitz und Macht zum höchsten Wert und alles beherrschenden menschlichen Ziel.

Der zwangsläufige Ausdruck der Trennung von Ich und Nicht-Ich ist darum Streit, Kampf, Ausgrenzung, Feindschaft, Gewalt und Krieg. Auf der Grundlage dieses Konzepts ist es möglich, dass Menschen oder Institutionen - ihre untrennbare Verbundenheit mit dem anderen nicht erkennend - ihre eigenen, meist kurzfristigen und kaum lebensnotwendigen Bedürfnisse über die von Millionen, ja Milliarden anderer Menschen oder Lebewesen stellen und sich auf eine Weise verhalten, mit der sie letztendlich ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören. Es liegt unmittelbar in der Logik des abgespaltenen "Ich", dass es in letzter Konsequenz sich selbst vernichtet. Und eben das kennzeichnet den Leidenszustand der heutigen Welt.
 


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