Große und symbolische Katastrophen sind in der Geschichte der Menschheit immer wieder Anlaß zu einer Besinnung gewesen, in der die Mächtigen der Welt ihre Hybris ablegen, Gesellschaften sich selbst reflektieren und ihre Grenzen erkennen. Nichts dergleichen ist nach dem Kamikaze-Angriff auf die Nervenzentren der USA in der kapitalistischen Weltgesellschaft zu beobachten. Fast scheint es so, als hätte der barbarische Angriff aus dem Dunkeln der Irrationalität nicht nur das World Trade Center platt gemacht, sondern auch den letzten Rest von Urteilsvermögen der weltdemokratischen Öffentlichkeit. Diese Gesellschaft will sich im Spiegel des Terrors nicht selbst erkennen, sondern sie wird unter dem Eindruck des Grauens sogar noch selbstgefälliger, bornierter und unreflektierter als zuvor. Je gewaltsamer sie auf ihre Grenzen hingewiesen wird, desto heftiger pocht sie auf ihre Macht und desto sturer kultiviert sie ihre Eindimensionalität.
Nach dem Terrorschlag verhalten sich die Funktionseliten, die Medien und das Fußvolk des globalen Systems von "Marktwirtschaft und Demokratie", als wären sie allesamt Schauspieler und Statisten in einer Realinszenierung des Films "Independence Day". Hollywood ahnte ein apokalyptisches Ereignis voraus und verfilmte es als Darstellung von patriotischem Kitsch und hinterwäldlerischer Moral. So hat die Kulturindustrie die Wirklichkeit der Katastrophe banalisiert und entwirklicht, bevor sie überhaupt wirklich wurde. Die spontane Trauer und Fassungslosigkeit wird überlagert von den falschen Ritualen eines programmierten Reaktionsmusters, das jedes Verständnis für den inneren Zusammenhang von Terrorismus und herrschender Ordnung unmöglich macht.
Die Verhärtung des offiziellen demokratischen Bewußtseins zur wütenden Besinnungslosigkeit wird deutlich, wenn der Laiendarsteller des US-Präsidenten einen "monumentalen Kampf des Guten gegen das Böse beschwört. Durch dieses naive Weltbild werden die eigenen inneren Widersprüche nach außen projiziert. Es ist das elementare Schema aller Ideologie: Statt den Komplex der Zusammenhänge aufzudecken, in die man selbst verwickelt ist, muß eine fremde Ursache für die Ereignisse gefunden und ein externer Feind definiert werden. Aber im Unterschied zu den pubertären Traumwelten Hollywoods wird es in der harten Wirklichkeit der zerbrechenden Weltgesellschaft kein happy end geben.
In dem Film "Independence Day" sind es sinnigerweise Außerirdische, die "Gottes eigenes Land" angreifen und natürlich heroisch zurückgeschlagen werden. Diesen Part des außerweltlichen, außerkapitalistischen und außervernünftigen Aliens soll nun offenbar der militante Islamismus übernehmen, als handle es sich um eine soeben entdeckte fremde Kultur, die sich als finstere Bedrohung entpuppt. Auf der Suche nach dem Ursprung des Bösen blättert man im Koran, als ließen sich dort die Motive für die sonst unerklärlichen Taten finden.
Aufgestörte westliche Intellektuelle entblöden sich nicht, den Terrorismus als Ausdruck eines "vormodernen" Bewußtseins zu bezeichnen,das die Epoche der Aufklärung verpasst habe und deshalb die wunderbare westliche "Freiheit zur Selbstbestimmung", den freien Markt, die liberale Ordnung und überhaupt alles Gute und Schöne der westlichen Zivilisation in Akten des blinden Hasses "verteufeln" müsse. Als hätte es nie eine intellektuelle Reflexion über die "Dialektik der Aufklärung gegeben" und als hätte sich der liberale Begriff des Fortschritts in der katastrophalen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht längst blamiert, kehrt in der Verwirrung über den neuartigen Akt des Wahnsinns die ebenso arrogante wie ignorante bürgerliche Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts als Gespenst zurück. Im krampfhaften Versuch, die neue Dimension des Terrors einem fremden Wesen zuzuschreiben, fällt das westlich-demokratische Räsonnement endgültig unter jedes intellektuelle Niveau.
Aber die Tatsache des inneren Zusammenhangs aller Erscheinungen in der globalisierten Gesellschaft läßt sich so billig nicht wegdefinieren: Nach fünfhundert Jahren blutiger Kolonial- und Imperialismusgeschichte, nach hundert Jahren einer gescheiterten staatsbürokratischen Industrialisierung und nachholenden Modernisierung, nach fünfzig Jahren destruktiver Integration in den Weltmarkt und zehn Jahren unter der absurden Herrschaft des neuen transnationalen Finanzkapitals gibt es in Wahrheit keinen exotischen orientalischen Raum mehr, den man als fremd und äußerlich begreifen könnte. Alles, was heute geschieht, ist unmittelbar oder vermittelt ein Produkt des zwanghaft vereinheitlichten Weltsystems. Die One World des Kapitals ist selber der Schoß, der den Mega-Terror gebiert. Es war die militante Ideologie des westlichen ökonomischen Totalitarismus, die den ebenso militanten neo-ideologischen Wahnvorstellungen den Weg geebnet hat. Das Ende der staatskapitalistischen Ära und ihrer Ideen wurde zum Anlaß genommen, die kritische Theorie überhaupt zum Schweigen zu bringen. Die Widersprüche der kapitalistischen Logik durften nicht mehr zur Sprache kommen, sie wurden für nicht existent und die Frage der sozialen Emanzipation jenseits des warenproduzierenden Systems für irrelevant erklärt. Mit dem vermeintlich endgültigen Sieg des Markt- und Konkurrenzprinzips begann die intellektuelle Reflexionsfähigkeit der westlichen Gesellschaften zu erlöschen. Die Menschen dieser Welt sollten identisch werden mit kapitalistischen Funktionen, obwohl die Mehrheit bereits als "überflüssig" abgestempelt war.
Während die finanzkapitalistischen Krisenmechanismen des Shareholder Value Milliarden von Menschen in Armut und Verzweiflung stürzten, sang die Mehrheit der globalen Intelligentsia wie zum Hohn das Lied des marktwirtschaftlich-demokratischen Optimismus. Sie haben jetzt die Quittung bekommen: Wenn die kritische Vernunft verstummt, tritt an ihre Stelle der mörderische Hass. Die objektive Unhaltbarkeit der herrschenden Produktions- und Lebensweise macht sich dann nicht mehr auf rationale, sondern auf irrationale Weise geltend. So folgte auf den Rückzug der kritischen Theorie der Vormarsch des religiösen und ethno-rassistischen Fundamentalismus. Solange sich die grundsätzliche emanzipatorische Kapitalismuskritik nicht neu formiert, werden die Ausbrüche von sozialer und ideologischer Paranoia zum alleinigen Gradmesser für das Ausmaß, in dem die Widersprüche der Weltgesellschaft herangereift sind. Unter diesen Bedingungen bedeutet die neue Qualität des Mega-Terrros in den USA, daß die offiziell ignorierte und heruntergeredete Krise des globalisierten kapitalistischen Systems eine neue Dimension angenommen hat.
Was als fremdartige Furie des Terrors erscheint, ist aber nicht nur auf dem Nährboden der marktwirtschaftlichen One World herangewachsen, sondern auch von den repressiven Machtapparaten der westlichen Demokratien selber gezüchtet worden, die jetzt ihre Hände in Unschuld waschen. Es handelt sich um Irrläufer des Kalten Krieges und der daran anschließenden demokratischen Weltordnungskriege. Saddam Hussein wurde vom Westen gegen das iranische Mullah-Regime aufgerüstet, das seinerseits aus der Modernisierungs-Ruine des Schah-Regimes gekrochen war. Die Taliban wurden von den USA gepäppelt, geschult und mit effizienten Flugabwehrraketen ausgerüstet, weil damals alles zum Reich des "Guten" zählte, was gegen die Sowjetunion gerichtet war. Und der jetzt zur mythischen Figur des Bösen aufgeblasene Wirrkopf Usama bin Laden betrat aus demselben Grund ursprünglich als "baby" der westlichen Geheimdienste die Weltarena der bewaffneten Paranoia. Der "Sicherheits"-Imperialismus der NATO, der die vom Kapital nicht mehr reproduzierbare Menschheit gewaltsam unter Kontrolle halten will, bedient sich auch aktuell befreundeter Folter-Regimes und diverser Gestalten des Wahnsinns in der Türkei, in Saudi-Arabien, Marokko, Pakistan, Kolumbien und anderswo. Aber weil diese Welt aus den Fugen geht, verselbständigt sich ein Wechselbalg nach dem anderen. Das "baby" von heute ist immer schon das "unbegreifliche Monster" von morgen.
Die Fürsten des Terrors, die Gotteskrieger und Clan-Milizen sind allerdings keineswegs nur äußerlich vom Westen instrumentalisierte Kräfte, die ihm nun zu entgleiten beginnen. Auch ihr Geisteszustand ist nicht "mittelalterlich", sondern postmodern. Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem Bewußtsein der marktwirtschaftlichen "Zivilisation" und dem Bewußtsein der islamischen Terroristen können nicht allzu sehr erstaunen, wenn man bedenkt, daß es sich bei der Logik des Kapitals um einen irrationalen Selbstzweck handelt, der nichts anderes als säkularisierte Religion darstellt. Auch der ökonomische Totalitarismus teilt die Welt in "Gläubige" und "Ungläubige". Die herrschende "Zivilisation" des Geldes kann die Abkunft des Terrors nicht rational analysieren, weil sie sonst sich selbst in Frage stellen müßte. So definiert der angeblich aufgeklärte Westen den Islamismus ebenso als "Werk des Teufels" wie dieser umgekehrt den Westen. Die irrationalen dichotomischen Bilder von "Gut" und "Böse" gleichen sich bis zur Lächerlichkeit.
Was in den Köpfen der Chefterroristen vorgeht, ist seiner Natur nach nicht bizarrer als die Art und Weise, wie die Chefmanager der globalen Marktwirtschaft Mensch und Natur unter dem destruktiven Zwang des abstrakten betriebswirtschaftlichen Kalküls wahrnehmen und zurichten. Der religiöse Terror schlägt ebenso blind und sinnlos zu wie die "unsichtbare Hand" der anonymen Konkurrenz, unter deren Regiment permanent Millionen von Kindern verhungern - um nur ein Beispiel zu nennen, das den angesichts der Opfer von Manhattan zelebrierten Kult der Betroffenheit in ein seltsames Licht taucht. Wenn die Medien zwischen den Zeilen eine heimliche Bewunderung für die ungeahnten technischen und logistischen Fähigkeiten der Terroristen erkennen lassen, wird auch in dieser Hinsicht die Verwandtschaft der Seelen deutlich: Beide Seiten gehören gleichermaßen der modernen "instrumentellen Vernunft an. Denn auf beide trifft zu, was in Melvilles "Moby Dick", dieser großen Parabel auf die Moderne, der unheimliche Kapitän Ahab sagt: Alle meine Mittel sind vernünftig, nur mein Zweck ist wahnsinnig. Die Ökonomie des Terrors entspricht spiegelbildlich dem Terror der Ökonomie. So erweist sich der Selbstmord-Attentäter als die logische Fortsetzung des einsamen Individuums in der universellen Konkurrenz unter den Bedingungen der Aussichtslosigkeit. Was hier zum Vorschein kommt, ist der Todestrieb des kapitalistischen Subjekts. Daß dieser Todestrieb dem westlichen Bewußtsein selbst inhärent ist und nicht nur durch die soziale, sondern auch durch die geistige Trostlosigkeit des totalitären Marktsystems ausgelöst wird, beweisen die periodischen Amokläufe von Mittelstandskindern in den Schulen der USA und das Attentat von Oklahoma, das bekanntlich ein authentisches Produkt des inneren Wahnsinns der USA war. Der auf ökonomische Funktionen reduzierte Mensch wird ebenso verrückt wie der Mensch, den der Verwertungsprozeß als "überflüssige Existenz" ausspuckt. Die instrumentelle Vernunft entläßt ihre Kinder.
Weil der irrationale Kern seiner Ideologie dem islamischen Fundamentalismus gleicht wie ein Ei dem anderen, kann der Kapitalismus nur noch zum Kreuzzug aufrufen, zum "heiligen Krieg" der westlichen "Zivilisation". Allein solche Opfer, die Star-Kolumnistinnen der USA, Broker in Manhattan und Bürger der westlichen Freiheit sind, gelten als wirkliche Opfer und werden in Gedenkgottesdiensten beweint. Der Tod von irakischen Zivilisten und serbischen Kinder dagegen, die von Bomben aus zehn Kilometer Höhe zerfetzt wurden, weil die kostbare Haut der US-Piloten nicht geritzt werden durfte, erschienen nicht als Menschenopfer, sondern als "Kollateralschaden". Sogar vor den Toten macht die globale Apartheid nicht halt. Der westliche Begriff der Menschenrechte enthält als stumme Voraussetzung die Verkäuflichkeit der Person und die Zahlungsfähigkeit. Wer diese Kriterien nicht erfüllen kann, ist eigentlich kein Mensch mehr, sondern ein Stück Biomasse. So teilt der westliche Fundamentalismus die Welt auf in das angeblich zivilisierte "Reich" einerseits und die "neuen Barbaren " andererseits, wie der französische Publizist Jean Rufin schon Anfang der 90er Jahre feststellte.
Das Imperium wankt. Innerhalb weniger Monate hat sich der Mythos der ökonomischen Unverwundbarkeit durch den Zusammenbruch der "New Economy" blamiert. Jetzt ist der Mythos der militärischen Unverwundbarkeit zusammen mit dem Pentagon in Flammen aufgegangen. Das utilitaristische Denken der Funktionseliten versucht sogar aus dieser Katastrophe noch Nutzen zu schlagen. Denn mitten im Absturz der Finanzmärkte hat man plötzlich den Stoff für eine Dolchstoßlegende: Nicht die herrschende Ordnung ist obsolet, wenn weitere Finanzblasen platzen und womöglich die Weltmarktwirtschaft kollabiert, sondern der "externe Schock" des Terrorschlags soll dann die Ursache gewesen sein - so Wim Duisenberg, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Das Systemversagen wird in die externe Bosheit der fremdartigen "Ungläubigen" umdefiniert, aber dadurch nicht ungeschehen gemacht.
Gleichzeitig rollt eine Welle der ebenso hysterischen wie schmalzigen Kriegspropaganda, als schrieben wir den August 1914. Überall melden sich zuhauf Freiwillige, mitten im Crash steigen die Aktien der Rüstungsindustrie, fast schon macht sich Hoffnung auf eine Kreuzzugs-Konjunktur breit. Aber klandestine Gruppen von Männern, die mit Messern und Teppichschneidern bewaffnet sind, fordern nicht die Massenmobilisierung und Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte heraus. Der Terror stellt kein äußeres Gegenimperium auf derselben Ebene von Staatlichkeit und Kriegswirtschaft dar. Er ist die innere Nemesis des globalisierten Kapitals selbst. Deshalb kann er keinen neuen Rüstungsboom hervorrufen. Auch militärisch wird der Kreuzzug ins Leere gehen. Ob mögliche "Vergeltungsschläge" der USA wie gehabt aus zehn Kilometern Höhe irgendeine Zivilbevölkerung dezimieren oder ob Bodentruppen unter hohen Verlusten durch entlegene Bergregionen irren, wie es die Armee der Sowjetunion in Afghanistan erfahren mußte: Aus dem Pseudo-Krieg gegen die von ihm selbst hervorgebrachten Dämonen der Weltkrise wird der Kapitalismus keine Nahrung für sein Fortleben mehr saugen können.
Es sind auch Stimmen der Vernunft zu hören, von Feuerwehrleuten in
New York bis zu einzelnen Journalisten und Politikern, die wenigstens sagen,
daß ein Krieg völlig sinnlos wäre. Aber diese Vernunft
droht hilflos zu bleiben und von der Welle der Irrationalität weggeschwemmt
zu werden, wenn sie nicht zu einer Analyse der Krisenverhältnisse
findet. Es gibt nur einen Weg, dem Terror wirklich den Nährboden zu
entziehen: die emanzipatorische Kritik am globalen Totalitarismus der Ökonomie.
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Terror