Der 11. September, die Globalisierung und der Buddha
von Franz-Johannes Litsch
Tatsächlich ist die Welt seither keine andere geworden, sie zeigt sich eher erschütternd unverändert. Unverändert in ihren Reaktionen, Emotionen, Antworten und vermeintlichen Lösungen. Und unverändert in dem, was als Ursachen, Hintergründe und Motive dieser gigantischen Zerstörungsaktion erkannt werden kann. Nur eines hat das Ereignis bewirkt, es hat uns aufgeweckt, hat uns aus unserem vielfach weltflüchtigen, am Zustand der Welt desinteressierten Dämmerschlaf aufgeschreckt. Wir sind im gelangweilten, spaßsüchtigen Wohlstandswesten plötzlich mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die wir in den letzten Jahrzehnten kaum noch sahen oder sehen wollten. Und wir erkennen, wir sind nicht unbeteiligt und ausgenommen davon. Wie diese Doppeltürme sich stolz und machtvoll über Manhattan erhoben, so glaubte auch der "freie Westen" sich über den Rest der Welt und die von ihm maßgeblich geprägte Wirklichkeit erheben zu können.
Dabei enthielten unsere Träume oder Alpträume längst schon die Bilder des nun real gewordenen Horrors. Wer sagte nicht: wie im Kino... Seit Jahrzehnten inszenierte die Traumfabrik Hollywood mit Wohllust und Millionenaufwand immer neue Varianten des Infernos vom Untergang der modernen Zivilisation. Da gingen schon zahllose Hochhäuser in riesigen Feuerbällen und Qualmwolken auf, wurden schon mehrfach terroristische Angriffe aus der Luft auf Städte und Regierungsgebäude durchgespielt und konnte schon lange mit Hilfe des Microsoft-Flugsimulators der Einschlag eines Flugzeugs in die Türme des World Trade Centers geübt werden. Doch wir glaubten, Gedanken seien frei und hätten keine Bedeutung. All das war ja nur Spiel, war nur virtual reality. Die schlimmste Bedrohung kam ja auch immer von Außerirdischen. Wir waren uns so sicher...
Das Dhammapada, eine bedeutende frühbuddhistische Verssammlung beginnt mit dem Satz: "Vom Geiste gehn die Dinge aus, sind Geist geboren, Geist gemacht." Die Dinge, so lehrte uns der Buddha, geschehen und entstehen nicht aus dem luftleeren Raum. "Von Nichts kommt nichts". Alles entsteht aus Ursachen und hat Wirkungen, alles entsteht aus Bedingungen und schafft Bedingungen. Alles steht mit anderem in Beziehung und untrennbarem Zusammenhang. Die Welt entsteht auseinander und entsteht in unserem Geist. Und so ist die Welt, die uns begegnet, auch keine andere als unsere eigene. Keine andere als die, die wir uns selbst geschaffen haben.
Der Terrorwahn vom 11. September ist deshalb nicht der Beginn der Geschichte. Wer ihn jetzt zu solchem macht, der kann zuvor nur blind oder taub gewesen sein. Und wer uns dies auch noch als einzig richtige Sichtweise aufdrängen will und jeden Hinweis auf Ursachen und Zusammenhänge als Rechtfertigung des Terrors diffamiert, der wird kaum in der Lage sein, aus dem Geschehen die angemessenen Antworten und Lösungen zu finden. Und tatsächlich ist das bloße blinde Reagieren, das sich Regieren nennt, dieses immer gleiche Beantworten von Gewalt durch neue Gewalt mit voraussehbar katastrophalen Folgen wieder in vollem Gange.
Als sich Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts das dem "freien Westen" als "Reich des Bösen" geltende sozialistische Lager aufgelöst hatte, verkündete Francis Fukuyama, amerikanischer Denker und Berater des damaligen US-Präsidenten George Bush das "Ende der Geschichte". Ernsthaft wurde geglaubt, dass wir nun das größte Problem der Menschheit losgeworden seien und jetzt nur noch den überlegenen american dream überall zur Geltung bringen müssten. Armut, Elend, Ausbeutung, Unterdrückung, Unfreiheit, Ungerechtigkeit das war doch alles nur kommunistische Propaganda gewesen, damit hatte die demokratische und soziale westliche Marktwirtschaft nichts zu tun. Dementsprechend fühlte sich diese auch endlich von allen Fesseln und Hindernissen befreit und startete in den 90er Jahren im Zeichen der Ideologie des Neoliberalismus eine beispiellose ökonomische Expansion über den gesamten Globus. Es setzte endgültig das ein, was wir derzeit unter dem Stichwort "Globalisierung" zu fassen suchen.
Seit 30 Jahren schwärmt der postmoderne Westen vom "globalen Dorf", seit den 80er Jahren begründen die westlichen Wirtschaftsvertreter alle ihre Forderungen an Staaten und Bürger mit der unumgänglichen und faktisch gewordenen Globalisierung. Nun verschafft sich unvermittelt der armselige und jahrzehntelang ignorierte Dorfrand in der stolzen Mitte mörderisch Aufmerksamkeit und wir sind maßlos schockiert. Die Errichter des Welt-Handels-Zentrums sind entsetzt über die Globalisierung, die sie selbst herbeigeführt haben. Denn sie hatten sich die ja nur technisch und wirtschaftlich gedacht. Menschen mit ihren Gefühlen und Verletzungen, ihren Bedürfnissen, ihrem Leid, ihrer Wut kamen dabei eigentlich nicht vor.
Was meint nun Globalisierung? Dass wir heute nahezu an jedem Ort der
Welt fast alle Produkte und Waren von überall in der Welt kaufen und
verkaufen können, ist zwar eine Situation, die noch nie in solchen
Umfang möglich war aber doch nichts grundsätzlich Neues darstellt.
Bereits in der Antike gab es einen Warenhandel von Rom bis China. Mit der
Epoche der Entdeckungen und des Kolonialismus war dieser weltweit geworden.
Auch den intensiven Kulturaustausch und die Ausbreitung von Religionen
über weite geographische Räume kennen wir schon seit der Frühzeit
des Buddhismus wie des Griechentums. Ebenso sind Völkerwanderungen
historisch uralt und haben erst vor ca. 1200 Jahren den deutschsprachigen
Kulturraum hervorgebracht. Über globale Nachrichtennetze und Informationen
verfügen wir seit mindestens 200 Jahren. Selbst eheliche Verbindungen
zwischen Menschen verschiedener Völker und Kulturen waren bereits
in der Antike nichts Ungewöhnliches.
Alexander der Große hatte 300 v. Chr. in Persien 50.000 seiner
mazedonischen Soldaten die Heirat mit einheimischen Frauen erlaubt. Deren
Nachfahren haben einst die ersten, griechisch inspirierten Buddhastatuen
angefertigt und bilden heute einen Teil des afghanischen Volkes. Die Kanonen
der Taliban gegen die Buddhastatuen von Bamian waren Kanonen gegen diese
frühe Globalisierung.
Die Globalisierung der Menschheit als Entwicklung zu mehr Begegnung, Kommunikation, Austausch, Dialog, Vereinheitlichung, Zusammenschluss wie aber auch zur Differenzierung, Abgrenzung und Eigenständigkeit, ist der Zivilisationsprozess der Menschheit seit Herausbildung der ersten Hochkulturen. Aus diesem Prozess gingen auch alle Weltreligionen hervor. Die erste große bewusste Globalisierungsbewegung war der Buddhismus, denn er wandte sich erstmals an alle Menschen ohne Unterschied.
Doch kann nicht übersehen werden, dass der heutige Globalisierungsprozess sich auf eine ganz bestimmte, eine besonders machtvolle, ja eine zerstörerische Weise vollzieht. Es ist die Dynamik, die Geschwindigkeit, die Rücksichtslosigkeit, die Blindheit des Geschehens, die immer mehr zum Problem wird. Es ist die extreme Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ungleichzeitigkeit der Verhältnisse, die daraus entstanden sind. Und es ist der Eindruck, dass die Entwicklung von den Betroffenen und Verlierern des atemberaubenden Fortschritts nicht mehr beeinflusst, korrigiert, oder gar beherrscht werden kann. Die Menschen fühlen sich in einem Maße vom Geschehen überrollt, dass sie es nur noch als Desorientierung, Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Fremdbeherrschung, Unterwerfung und Demütigung erleben. Und das ebenso in den Ländern des reichen Nordens wie des armen Südens, wo auch beide die "Schuld" in dem suchen, was von außen eindringt.
Diese Dynamik war zum einen möglich geworden durch den Wegfall
der Systemkonkurrenz des Sozialismus, der dem Westen mit einem Mal riesige
neue Märkte, Rohstoffquellen und extrem billige Arbeitskraftreservoire
sowie den Ausfall jeglicher Kritik und Opposition eröffnete. Zum zweiten
durch den von der Theorie des Neoliberalismus herbeigeführten freiwilligen
Rückzug des Staates aus der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen
Kontrolle und Steuerung der Wirtschaft (genannt Deregulierung) sowie die
immer umfassendere Privatisierung und Vermarktung bisheriger staatlicher
Aufgaben und Dienstleistungen. Zum dritten durch den immer ausgeprägter
globalen Charakter der großen Konzerne (TNC´s), was zur Herausbildung
unabhängiger privater Weltmächte führte, die sogar die Macht
vieler Staaten weit hinter sich lassen. Und schließlich durch das
gewaltige
Übergewicht, das der von allen Beschränkungen befreite und
rein virtuell sich vollziehende globale Finanz-, Devisen- und Aktienmarkt
über den zumeist eher regionalen und schwerfälligen Warenmarkt
erlangte.
Das frei verfügbare Finanzkapital, das jeden Tag über das
weltweite computerisierte Kommunikationsnetz sekundenschnell hin und her
wandert, entspricht mittlerweile dem Geldwert dessen, was innerhalb eines
ganzen Jahres an Waren produziert wird. 87% der täglich umgesetzten
Geldmenge ist reines Spekulationskapital. Dies führte zu einem Casino-Kapitalismus,
der herkömmliche Arbeit völlig entwertet, denn mit Spekulationen
an der Börse lassen sich an einem einzigen Tag ohne allzu große
Anstrengungen Millionen an Dollars verdienen. Angesichts dessen, angesichts
der ungeheuren Bevölkerungsexplosion der Armutsländer, angesichts
eines weltweit riesigen Heeres an Arbeitslosen, angesichts der Situation,
dass fast jede Routine-Arbeit inzwischen von hochtechnisierten Maschinen
und Robotern billiger und schneller erledigt werden kann, zählen Menschen
mit
gering- bis mittelqualifizierter Arbeitskraft für die heutige
Weltwirtschaft so gut wie nichts mehr. Mehr als ¾ der Menschheit
sind ökonomisch überflüssig geworden und können froh
sein eine Billiglohnbeschäftigung zu bekommen, von der sie weder leben
noch sterben können.
Das Ergebnis ist eine unerträglich krasse Verarmung und Verelendung eines erheblichen Teils der Menschheit bei gleichzeitig schier unvorstellbarer Zusammenballung von Reichtum und Macht in den Händen extrem weniger Personen, Familien und Unternehmen. Alleine das in Steuerparadiesen geparkte, ungenutzte Kapital beträgt 9 000 000 000 000 (Billionen) US$. 1 Milliarde Menschen von 6 Milliarden insgesamt leben unter dem absoluten Existenzminimum. 2/3 aller Menschen (4.2 Md.) gelten als in Armut lebend. 1% der Weltbevölkerung verfügt über soviel Privatbesitz wie 50% der Menschheit. Drei Personen in den USA haben einzeln soviel Wirtschaftsmacht wie ca. 50 Staaten der Erde zusammen. Und 6 % der Menschen verbrauchen soviel Energie, wie 60% der übrigen. Schließlich: an jedem Tag verhungern weltweit 40.000 Kinder, jeden Tag. Wer in der "zivilisierten Welt" hat je für sie eine Gedenkminute eingelegt oder Kerzen aufgestellt? Jährlich sterben ca. 52 Mill. Menschen auf Grund von Unterentwicklung. Der 2. Weltkrieg forderte von 1939 bis 1945 insgesamt 54 Mill. Tode. Der 3. Weltkrieg findet längst statt.
Shakyamuni Buddha, der ganz im Gegensatz zur landläufigen Vorstellungen sich sehr engagiert und genau zu sozialpolitischen Fragen äußerte und dafür heilsame Empfehlungen gab, sprach in mehreren überlieferten Sutren (Lehrreden) Armut als die zentrale Ursache sozialen Leids und politischer Unordnung an (siehe: Aggaññya Sutta, Mahanidana Sutta, Cakkavatti Sutta, Kutadanta Sutta u.a.). Im Cakkavatti Sutta z.B. beschrieb Buddha das Entstehen aller Arten von Verbrechen, von Diebstahl, Gewalt, Mord, Hass, Lüge, Verleumdung usw. und deutete sie als Auswirkungen der Vernachlässigung sozialer Gerechtigkeit durch den König und als Folge der Habgier der Einen und der Armut der Anderen. Er zeigte auf, wie es auf Grund dessen zu einem Teufelskreis der Negativität, der Kriminalität, der Gewalt und der gesellschaftlichen Selbstzerstörung komme. Schließlich, so sagte er voraus, werde der dadurch verursachte gesellschaftliche Absturz ein furchtbares Ausmaß annehmen und zum Ausbruch eines "Messerstichzeitalters" führen, in dem der Krieg aller gegen alle tobe. Nur eine kleine Minderheit werde dieser Katastrophe entgehen und - endlich zur Einsicht gekommen - beginnen, einen neuen gesellschaftlichen Weg der Achtsamkeit, des Mitgefühls und der freundschaftlichen Zusammenarbeit einschlagen.
Hat es nicht den Anschein, dass wir uns mit dem 11. September 2001 immer
entschlossener auf dieses Messerstichzeitalter
zubewegen? Denn dieser "erste Krieg des 21. Jahrhunderts" ist kein
Krieg herkömmlicher Art, bei dem ein Land gegen ein anderes Land kämpft,
auch kein innerer Bürgerkrieg, sondern er ist der private Krieg global
vernetzter krimineller Banden gegen die Symbole und Repräsentanten
der global dominierenden Kultur- und Supermacht. Der Terrorismus der Selbstmordpiloten
ist keineswegs mittelalterlich, er ist höchst modern. Er entspricht
völlig der Logik des Neoliberalismus, denn er ist globalisierte, deregulierte,
dezentral-vernetzte, privatisierte und technisierte politische Gewalt.
Auch dies haben zahlreiche James Bond- und Rambo-Filme längst schon
vorweggenommen. Die Drahtzieher des Anschlags auf das WTC berücksichtigten
virtuos alle Mechanismen der modernen Mediengesellschaft und dachten sogar
daran - ganz nach den Regeln des vermeintlich bekämpften Systems –
aus dem Massenmord an der Börse einen gewaltigen Spekulationsgewinn
zu ziehen. Steueroasen, Geldwäsche und Bankgeheimnis haben es bisher
unmöglich gemacht, herauszufinden, wer diese Finanzmanipulationen
durchgeführt hat.
So wird in diesem neuartigen Krieg die Welt der Moderne gegen sich selbst eingesetzt. Es braucht keine Waffen mehr dafür, es genügen Verkehrsflugzeuge gegen Hochhäuser oder Atomkraftwerke; künstlich erzeugte Krankheitserreger gegen ihre Herstellerländer; Videos, Fernsehsender, Internet und Emails gegen das Ursprungsland der globalen Kommunikationsgesellschaft. Technik gegen Technik. Die Rationalität der modernen Zivilisation gegen sich selbst. Deren ethische Irrationalität hat in unserer Alltagswelt inzwischen ein derart extremes und vielseitiges Gefahrenpotential angehäuft, dass es genügt, es nur teilweise zur Wirkung zu bringen, um die moderne Welt, ja die gesamte Menschheit auszulöschen. Klingt uns nicht noch der Hohn gegen jene im Ohr, die in der Vergangenheit vor unserem wahnwitzigen Fortschritt in die "Risikogesellschaft" und Selbstzerstörung warnten?
Die Zivilisation der Moderne ist blind gegenüber sich selbst. Sie hat keine innere Korrektur mehr, sieht sich allen anderen menschlichen Lebensweisen überlegen, hält sich für unvermeidlich und alternativlos, hat in Wahrheit einen totalitären Anspruch. Darum produziert sie immer wieder aus sich selbst heraus neue Feinde und Gegenkräfte. Dabei hätte ihr eigenes, allen anderen ständig verkündetes, für sich selbst nie erst genommenes demokratisches Ideal ihr dies schon vorweg zur Einsicht bringen können. Jetzt zeigt sich, dass der (westliche) Kapitalismus sich einen fatalen Dienst damit erwiesen hat, die ihm komplementäre Systemopposition des (östlichen) Sozialismus alternativlos zu beseitigen. Seither sehen die Opfer des weltweiten Siegeslaufs der westlichen Wirtschaftsmacht keine Vertretung, keine Stimme, keine Zuflucht mehr. Dass der realisierte Sozialismus diese Alternative allerdings auch nie darstellte, ja grausam und menschenfeindlich missbrauchte, ist nur die andere Seite der Tragik.
Weil die verzweifelten, wütenden, sich gedemütigt und ohnmächtig fühlenden Menschen vieler Länder des Südens nach einer geistigen Alternative, einer solidarischen Gemeinschaft und starken Gegenmacht suchen, greifen sie nun auf jene Kräfte zurück, die ihnen noch geblieben sind, das sind die Religionen. Die erleben heute eine Rückkehr wie eine Radikalisierung. Das war bereits in den 70er Jahren in Lateinamerika ein marxistisch interpretiertes Christentum, das ist heute von Nordafrika bis in Teile Chinas der islamische Fundamentalismus, das ist in Indien ein extremistischer Hinduismus. Können wir uns sicher sein, dass nicht auch der Buddhismus eines Tages in den nicht minder krisengeschüttelten und unfreien Ländern Asiens eine militante Protestform annimmt? Auch dort ist die Unzufriedenheit und Frustration vieler Menschen über das Elend und die Ausweglosigkeit ihrer Situation groß. Und die buddhistische Kultur erlebt in ganz Asien einen dramatischen Niedergang. Ausgerechnet Bin Laden T-Shirts sind zur Zeit im buddhistischen Thailand ein Verkaufsschlager. Steht uns vielleicht doch der von S. Huntington angekündigte Krieg der Kulturen bevor?
Abgesehen davon, dass der Buddha der unerschütterlichen Ansicht war, dass Probleme, insbesondere solche der Gewalt nicht durch Gewalt zu lösen sind, sondern nur eine Eskalation der Gewalt bewirken, kann der gegenwärtige Krieg der USA in Vorderasien bereits als verloren betrachtet werden. Denn der Westen weigert sich, den tatsächlichen Charakter dieser Art terroristischer Bedrohung zu erkennen und daraus sinnvolle und heilsame Konsequenzen zu ziehen. Er erkennt nicht, dass es sich um Phänomene handelt, die - trotz aller religiösen Begründung und vormodern-religiösen Opferbereitschaft - aus der globalisierten Moderne selbst kommen, sich in deren Logik und auf deren Grundlage bewegen und von ihr in immer extremerer Weise gefördert werden. Der Terrorismus des 11.September lässt sich nicht auf den Islam zurückführen, denn die Argumentation des als hauptverdächtig geltenden Osama Bin Laden ist durch und durch eklektizistisch und widerspricht seiner eigenen sunnitischen Tradition. Auch kann religiöser Fundamentalismus nicht automatisch mit Terrorismus gleichgesetzt werden. Der Terrorismus wuchert heute aus jedem blinden Fanatismus.
Der Terrorismus wurzelt generell in keiner herkömmlichen kulturellen oder religiösen Tradition, er ist ein gänzlich modernes Phänomen und besteht in der zynischen Absolutsetzung indivualistischer Sichtweisen, Interessen und Ziele. Darum ist er zumeist auch die Sache Einzelner. Der Terrorismus ist das extremste Produkt der Säkularisierung, in ihm setzt der Terrorist sich selbst an die Stelle Gottes, macht sich zum Herrn über Leben und Tod. Und tatsächlich handelten die Terroristen des 11. September im Anspruch, den Willen Gottes auszuführen. Einen Willen, den sie definierten und der für sie alle Mittel heiligt. Dessen schuldlose Opfer sind für sie "leider unvermeidliche Kollateralschäden". Doch welcher Unterschied in der Sichtweise besteht hier zu der, die derzeit den Krieg in Afghanistan rechtfertigt? Handelt nicht auch Bush im Namen Gottes und des Guten?
Die westliche Welt erkennt nicht, dass der Terrorismus das verzerrte Spiegelbild ihrer selbst ist. Stattdessen bombardiert sie in herkömmlich martialischer und hochtechnisierter Weise ein weit entferntes, völlig verarmtes und bereits mehrfach zerstörtes Land. Sie exekutiert eine Strafexpedition nach klassisch kolonialistischem Muster, völlig unfähig, sich in die Denk- und Lebensweisen der betroffenen und mit jenen befreundeten Völker einzudenken. Sie zeigt keinerlei Bereitschaft, die Ursachen des Hasses in der außerwestlichen Welt gegenüber den vermeintlichen Segnungen der "überlegenen Zivilisation" zur Kenntnis zu nehmen, geschweige, zu ihrer Überwindung beizutragen. Als der amerikanische Präsident zwei Wochen nach Beginn des Bombardements auf Afghanistan von einem Journalisten auf den Hass gegen die USA in den islamischen Ländern angesprochen wurde entgegnete er: "Ich bin entgeistert. Ich kann es einfach nicht glauben, weil ich weiß, wie gut wir sind."
Der Westen spricht von Globalisierung, aber ist nicht ansatzweise offen dafür, die außereuropäischen Kulturen und Religionen wirklich zu verstehen und als gleichwertige Wege und Möglichkeiten menschlichen Lebens anzuerkennen. Dabei vollzieht die "freie Welt" nun zugleich einen dramatischen Generalangriff gegen die eigene Kultur, gegen die rechtsstaatlichen Freiheiten und Grundsätze, die man vorgibt zu verteidigen und welche die westliche Überlegenheit beinhalten sollen. So beraubt man sich letztlich aller Legitimation für diesen Kampf und vermehrt nur die Zahl der Feinde. Am Ende des gegenwärtigen Feldzugs wird die Herrschaft der Taliban wahrscheinlich gestürzt und das Terrornetzwerk Bin Ladens geschwächt sein, aber der gesamte islamische Raum wird sich in Chaos und Aufruhr befinden und der Terrorismus wird mächtiger sein denn je. Ja, es ist zu befürchten, dass mit diesem Krieg - der schon als langwierig angekündigt ist - der Kriegszustand zu einer Dauereinrichtung wird und unsere Gesellschaften immer unaufhebbarer militarisiert werden. In diesem Krieg wird es keine Sieger sondern nur noch Opfer und Verlierer geben.
Der 11. September hat uns aufgeweckt, aber noch nicht wirklich wach gemacht. Um wach zu werden müssen wir das Leiden wirklich sehen, das in der Welt ist und in welcher Weise wir es immer wieder neu produzieren. Wir müssen Schluss machen mit der Verdrängung und dem Selbstbetrug und ernsthaft Bereitschaft dafür entwickeln, die ganze Wirklichkeit wahrzunehmen. Wenn wir tatsächlich hinschauen und zuhören, sind wir in der Lage, die Ursachen des Leidens zu erkennen. Ursachen, die in uns selbst zu finden sind. Ursachen die darin wurzeln, dass wir angstvoll und engherzig auf uns selbst fixiert sind.
Was für die Menschen insbesondere in den USA durch die Terroranschläge am heftigsten erschüttert wurde, war der fest verankerte Glaube, unverletzbar zu sein, sicher zu sein, nicht betroffen zu sein von dem, was an Elend, Chaos, Terror und Krieg in der übrigen Welt geschieht. Dahinter steht nicht nur der Umstand, dass die USA seit 200 Jahren keinen Angriff mehr von außen erlebt haben, sondern die pseudoreligiöse, in tiefer Lebensangst wurzelnde Verheißung und Gläubigkeit der Moderne, dass es dem Menschen möglich sei, die totale Beherrschung über die Wirklichkeit, die Natur, die Völker und den Menschen zu erringen. Mit dem Satz "Wissen ist Macht" aus der Feder des Franziskanermönchs Francis Bacon begann im 16. Jh. in England die wissenschaftlich-technisch fundierte Moderne. Seither war es Ziel des Abendlands, auf jede mögliche geistige wie materielle Weise, die gesamte Welt zu beherrschen, zu kontrollieren, nach den eigenen Vorstellungen um- und neu zu konstruieren. Diese Welteroberung fand ihren Niederschlag im westlichen Kolonialismus, in der industriellen Beherrschung aller Konsumwünsche, in der Entwicklung der Atombombe, in der Entschlüsselung des menschlichen Genoms.
Shakyamuni Buddha zeigte uns jedoch bereits vor 2500 Jahren den tiefsten Kern des menschlichen "Willens zur Macht": die Illusion vom dauerhaften, festen, stabilen, abgrenzbaren Ich (Selbst). Dass es möglich, nötig und wünschenswert sei, ja - dass alle Hoffnung darin bestände, dieses Ich zu sichern und zu verewigen, daran glaubt die westliche Kultur seit der griechischen Antike wie keine andere. Die abendländische Philosophie hat diesen Gedanken nie angezweifelt. Das Ichkonzept ist der zentrale Inhalt dieser Zivilisation. In buddhistischer Sichtweise ist er nichts als leidverursachende Verblendung. Ihm gemäß gibt es kein unverletzliches Ich, denn die Wirklichkeit ist geprägt von Unbeständigkeit (anicca), von Ungenügen (dukkha) und von der Leerheit (anatta, sunjata) aller Erscheinungen.
Indem wir erkennen, dass es kein stabiles, gesichertes, abtrennbares
Ich oder Leben geben kann, können wir zugleich erkennen, dass wir
als Menschen und empfindende Wesen untrennbar wechselseitig miteinander
verbunden und voneinander abhängig sind, dass wir kein von den anderen
und der Welt getrenntes Ich haben, sondern uns zutiefst im Anderen finden
können und entdecken müssen. Es gilt zu erkennen, dass es nur
diese Verbundenheit ist, die uns ins Leben bringt, durchs Leben trägt
und mit Leben erfüllt. Dies erkennend und erfahrend, sind wir auch
in der Lage, unsere überzogenen Lebensängste und illusionären
Machtansprüche loszulassen. Wir waren und sind schon immer globalisierte
Wesen, abhängig, untrennbar und getragen vom Ganzen und damit auch
verantwortlich für das Ganze. Noch nie war und wird uns dies so bewusst,
wie heute im
Zeichen der Globalisierung.
Horst-Eberhard Richter, seit Jahrzehnten friedensengagierter Psychoanalytiker und Sozialphilosoph sagte unter großem Beifall anlässlich eines Kongresses zur Globalisierung im Herbst 2001 in Berlin: "Der Westen muss endlich einsehen, dass auf dieser Erde alle gegenseitig aufeinander angewiesen sind und dass wir nur in Anerkennung dieser Verbundenheit jemals eine Kultur des Friedens erreichen können. Der Egoismus des Westens, der zu einer rücksichtslosen Machtrivalität ohnegleichen entartet ist, hat den Blick für die ganz einfache Wahrheit verstellt, dass wir nur in einer ebenbürtigen und gleichberechtigten Gegenseitigkeit auf Dauer unsere Probleme lösen können."
Der Buddha lehrte uns vor 2500 Jahren, dass es keine wirkliche Trennung
von Innen und Außen gibt, dass beides sich gegenseitig enthält.
Der 11. September hat uns dies unmittelbar einsichtig gemacht. Die Terrorakte
wurden zwar in den USA begangen, aber ihre Wirkung haben sie auch in weit
entfernten Ländern bis in unsere eigene Person hinein entfaltet. Sie
wurden nach bisherigem Informationsstand außerhalb der USA geplant
- in Deutschland, England, Italien - in Afghanistan in Auftrag gegeben
und finanziert, haben insbesondere den Palästina-Konflikt zum Hintergrund,
wurden von Menschen aus Ägypten, dem Jemen und Saudi-Arabien durchgeführt
und töteten Menschen aus 70 verschiedenen Nationen. Umgekehrt leiden
nun Menschen in Afghanistan, Pakistan und anderswo an der amerikanischen
Antwort darauf und die Bevölkerung der westlichen
Länder muss die Kosten dafür tragen und beträchtliche
Einschränkungen ihrer Freiheit hinnehmen. Die traditionelle Trennung
von Innenpolitik und Außenpolitik, zwar schon immer wirklichkeitsfremd,
ist endgültig nicht mehr aufrechtzuerhalten, denn die Innenpolitik
einen Landes (z.B. seine Wirtschafts- oder Sicherheitspolitik) wirkt sich
auf die Innenverhältnisse anderer aus und umgekehrt. Alles politische
Denken und Handeln erweist sich als uns alle betreffende Weltinnenpolitik.
Das bedeutet, dass der auf die Verfolgung bloßer Eigeninteressen fixierte Nationalstaat historisch endgültig überholt ist. Und weiter, dass sich das Konzept uneingeschränkter Souveränität der Staaten (z.B. in der Missachtung der Menschenrechte oder ökologischer Rücksichtnahme) ebenso wenig aufrechterhalten lässt, wie die auch vom Westen praktizierte Verweigerungshaltung gegenüber einer globalen demokratischen Kontrolle und Einbindung aller Staaten und gesellschaftlichen Mächte (z.B. der Wirtschaft). Wer den Prozess der Globalisierung akzeptiert und verteidigt, der muss auch die Globalisierung der demokratischen Mitwirkung unterstützen. Im 21. Jahrhundert hat die Menschheit nur noch eine Zukunft auf der Basis der Einbeziehung jedes Einzelnen in unsere globale menschliche Verantwortung.
Von daher lässt sich auch auf persönlicher Ebene die Trennung von Innenwelt und Außenwelt, Privatexistenz und politischer Existenz, Individuum und Gesellschaft nicht mehr aufrechterhalten. Die Außenwelt ist die Welt, die wir aus uns heraus entstehen lassen, ist Spiegel unserer selbst. Und die Innenwelt ist das, was wir in uns eindringen lassen, Spiegel unserer Umwelt. Beide entstehen so in untrennbarem Zusammenhang. Unsere Beziehung nach innen wird zur Beziehung nach außen. Unsere Verhältnis zur Welt ist unser Verhältnis zu uns selbst. Der Weg zu unserem tiefsten Inneren wird zum Weg zum äußeren Ganzen.
Dies erkennend sehen wir, dass wir nicht hilf- und alternativlos sind, dass es einen Weg aus dem Leiden gibt und dass alles darauf ankommt, ihn praktisch und beharrlich zu beschreiten.
Könnte jenes schreckliche Ereignis vom 11.September 2001 uns die
Vier Edlen Wahrheiten des Buddha in ihrer enormen Aktualität zu Bewusstsein
bringen, so könnte es uns gelingen, Böses in Gutes, Vernichtung
in neues Leben, Hass in Mitgefühl, Ichbezogenheit in Verantwortlichkeit,
Leid in Befreiung zu verwandeln. Lasst uns damit beginnen - immer wieder
neu!
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