Elizabeth J. Harris
Die Wurzeln der Gewalt


(Auszug aus: Violence and Disruption in Society: A Study of the Early Buddhist Texts, Wheel Publication No. 392/393, Kandy, 1994)

Gewaltlosigkeit, oder Ahimsa, ist einer der Pfeiler buddhistischer Sozialethik, dem der Buddhismus seinen Ruf als eine Religion des Friedens, der Freundlichkeit und der Toleranz verdankt. Dennoch wird im frühen Buddhismus die Gewaltlosigkeit nicht nur als Aufgabe zur Selbstentwicklung angesehen. Der Buddha und die frühen buddhistischen Schüler richteten ihre Aufmerksamkeit auf die grauenvollen Auswirkungen von Gewalt in der Gesellschaft, die zur der Zeit, als der Buddhismus entstand, deutlich sichtbar wurden. Aufgrund seiner tiefen Einsicht in das Wesen des menschlichen Geistes, entwickelte der Buddha seine Lehren unter anderem auch als Hilfsmittel, um damit die spaltenden Konsequenzen, die Gewalt und Konflikte in der Gesellschaft verursacht hatten, beheben zu können.

Im Attadanda Sutta des Sutta Nipata spricht die Stimme eines Menschen, der, ob der Gewalt, die er mit ansehen muss, in
Verzweiflung geraten ist: "Wenn man sich auf die Gewalt stützt, entsteht Angst - seht nur wie die Menschen streiten und sich bekämpfen. Aber lasst euch nun die Art des Schreckens und Entsetzens schildern, die ich erfahren musste. Als ich die Menschen wie Fische im Wasser zappeln sah, sich in trüben Wasser krümmen sah, sich in Feindschaft gegenüber stehend, bekam ich Angst. Irgendwann wollte ich einen Ort aufsuchen, an dem ich davor Schutz finden konnte, aber es gab keinen solchen Ort. Es gibt nichts auf der Welt, das beständig fest und nichts, das ohne Wandlung wäre. Ich habe sie alle
in ihren gegenseitigen Streitigkeiten gefangen gesehen und deshalb fühlte ich mich davon so abgestossen. Aber dann bemerkte ich plötzlich etwas, das tief in ihren Herzen begraben war. Es war, ich konnte es endlich erkennen, ein Pfeil." (47)

Der obige Text stammt aus einer Übersetzung des Sutta Nipata, die den Geist des Textes bewahren wollte, nicht den genauen Wortlaut. Hier sind es der Geist der Bestürzung und der Angst, die zu einer Entdeckung führen, die von grundlegender Wichtigkeit ist. Der Sprecher entdeckt eine gemeinsame Wurzel - den Pfeil der Begierde (tanha) und Gier (lobha) - eine Sichtweise, die in direktem Zusammenhang mit den Vier Edlen Wahrheiten steht. Gewalt entsteht, weil ihr der Boden bereitet wird. Dennoch, es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es Unterschiede in der Art und Weise geben kann, wie "tanha" Situationen der Gewalt verursachen kann. Betrachtet man dies genauer, so sind zwei weitgreifende und gegenseitig voneinander
abhängige Bereiche zu erkennen: 1.Gewalt, der eine mangelnde Anpassungsfaehigkeit des Individuums zugrunde liegt und 2.Begierde und Gewalt, die auf unbefriedigenden sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen beruht, welche wiederum durch die Begierden anderer verursacht werden.

Letzteres findet sich in folgenden Texten wieder: im Kuetadanta Sutta; im Cakkavatti Sihanada Sutta und in gewissen Passagen des Anguttara Nikaya. Der erste Text erzählt einen Mythos im Mythos. Er beschreibt die Geschichte eines Königs, König Weites-Königreich, dessen Land von Unzufriedenheit und Kriminalität heimgesucht wird, in solchem Masse, dass sich die Leute aus Angst vor Gewalt nicht mehr auf die Straße trauen: "Der König beschließt, seinem Land eine Opferhandlung darzubringen und er geht zu einem Heiligen, um ihn um Rat zu fragen. Aber der König bekommt nicht, was er erwartet. Der
Weise sagt dem König, dass sich Bestrafungen, Kerker und Tod für die Gesetzesbrecher nur gegen die Situation selbst richten würden. Bestrafung ist nicht der richtige Weg. Im Gegenteil, sie würde das Unglück nur vergrößern, weil die Ursachen - in diesem Fall wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Armut - damit nicht angetastet würden. Dem König Weites Königreich wird empfohlen, den Bauern Nahrung und Saatgut, den Händlern Geld und den Angestellten seiner Behörden zu essen zu geben.

"Aber vielleicht könnte der König denken: "Ich werde das Unwesen, das diese Unholde treiben, bald beenden, indem ich sie degradiere und sie mit Verbannung und Geldbußen, mit Kerker und Tod bestrafe. Nur: ihrer Zügellosigkeit wird damit kein Ende gesetzt. Die übrigen, die man nicht erwischen würde, würden weiter ihr Unwesen im gesamten Königreich treiben. Es gibt nur einen Weg, diese Unordnung im Reich ein für allemal zu beenden. Wer auch immer in diesem Königreich sich dazu verpflichtet, Land anzubauen und Tierzucht zu betreiben, der sollte von seiner Majestaet Nahrung und Saatgut erhalten. Wer auch immer in diesem Königreich sich dem Handel widmet, den sollte seine Majestät mit Kapital ausstatten. Wer auch immer in diesem Königreich im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, dem sollte seine Majestät sein Gehalt bezahlen und ihm zu essen geben. Diese Leute werden dann das Königreich nicht mehr bedrohen, weil jeder von ihnen mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt sein wird; das Ansehen des Königs wird steigen; das Land wird eine Zeit der Ruhe und des Friedens erleben; und die Bevölkerung wird sich gegenseitig mögen und glücklich sein, ihre Kinder werden sie im Arm wiegen und sie werden ihre Türen nicht mehr verriegeln müssen." (48)

Die oben erwähnte Passage geht also davon aus, dass Männer und Frauen zu Gewalt getrieben werden können, wenn die vorherrschenden Umstände es ihnen nicht ermöglichen, ohne Anwendung von Gewalt zu überleben. Dem Selbsterhaltungstrieb wird genügend Kraft zugesprochen, die Menschen zum Kaempfen zu zwingen, wenn sie denn nicht untergehen wollen. In so einer Lage versteht es sich von selbst, dass die harte Hand des Gesetzes keine Abhilfe schaffen kann. In der Tat würde sie nur einen Anstieg schlimmerer Gewalttaten begünstigen.

Genau das passiert im Cakkavatti Sihanada Sutta, einem weiteren Mythos, der sich mit dem Zerfall der Gesellschaft befasst. Er wurde oben bereits in Zusammenhang mit der Pflicht ein Monarch zu sein, erwähnt. Aber es gibt einen Absatz diese Pflichten betreffend, der hier noch nicht erwähnt worden ist: "Lass während deiner Regierungszeit kein Unrecht aufkommen. Und wer auch immer in deinem Königreich arm ist, den lass am Reichtum teilhaben."(49) Die Könige, die sich an diese Pflicht halten, werden in diesem Mythos mit Friedenszeiten gesegnet. Dann taucht plötzlich ein König auf, der die Pflicht vernachlässigt, die Armen am Reichtum teilhaben zu lassen. Er wird kurz darauf mit einer Situation konfrontiert, die außer Kontrolle gerät. Die Armut greift um sich und dies führt zu Diebstahl, da die Menschen eher bereit sind zu stehlen als zu sterben. Sobald der König die Ursache erkennt, beginnt er den Gesetzesbrecher schonend zu behandeln, indem er ihm die fehlenden nötigen Mittel zur Verfügung stellt. Diese zu spät entwickelte Freundlichkeit des Königs hat die Folge, dass die anderen glauben, sie müssten erst zu Dieben werden, um die Gunst des Königs zu erlangen. Der König hat nachsichtig gehandelt, aber nicht gerecht, daher nimmt die Kriminalität zu, die ihrerseits wiederum brutale staatliche Repressalien nach sich zieht. Die Brutalität der Strafen
aber ermutigt die Menschen in ihren eigenen kriminellen Handlungen stets noch weiter zu gehen, zumal sie nichts mehr zu verlieren haben und sie nach wie vor versuchen werden zu überleben. Strafen versagen in so einem Fall, weil die Menschen zu verzweifelt sind."

Dieses Sutta zeigt ein schauerliches Bild davon auf, wie eine Gesellschaft in Unordnung zerfallen kann, wenn es dem System an
wirtschaftlicher Gerechtigkeit mangelt. Die dabei erreichten Extremsituationen gehen viel weiter als dies im Kutadanta Sutta
aufgezeigt wird und sie verweisen auf die Blindheit des Staats gegenüber den Auswüchsen der Armut. So also stellt dieses Sutta nach jeder Verschlechterung mit folgendem Refrain fest: "So also, nachdem die Güter nicht gerecht verteilt wurden, wuchsen Armut, Diebstahl, Gewalt, Mord, Lügen, schlechte Rede, und fehlendes Moralverhalten zu Auswüchsen heran."

Diebstahl und Mord führen solange zu falscher Rede, Eifersucht, Ehebruch, Inzenst und Perversion bis: "Zwischen diesen Menschen, Brüder, wird eine Zeit des Schwertes (satthantarakappa) heranreifen, die sieben Tage dauern wird, während derer sie sich gegenseitig als wilde Tiere betrachten werden; scharfe Schwerter werden ihnen in die Hände fallen und während sie denken werden: " Das ist ein wildes Tier, das ist ein wildes Tier!", werden sie sich gegenseitig mit ihren Schwertern das Leben nehmen."(50)

Im Cakkavatti Sihanada Sutta, liegt der Nährboden der Gewalt in der Missachtung der Armen von seiten des Staates. Der ganze Mythos beschreibt das Prinzip von paticca samupadda. Jeder Verschlechterungszustand beruht auf seinem vorhergehenden Zustand. Dort ist ein Entwicklungsprozess zu erkennen. Dabei scheint es zu etwas Unvermeidbarem zu kommen, zu einer unvermeidbaren Eskalation, die hin zur Bestialität fuehrt. Es ist bezeichnend, dass sich das Sutta nicht mit der psychologischen Verfassung der Menschen befasst. Die obsessiven Begierden, denen sie erliegen, werden auf das Versagen des Staates zurückgefuehrt nicht aber auf ihr eigenes Versagen, die Wirklichkeit nicht annehmen zu koennen. Die Wurzel ist
hier die Beschmutzung der Menschen durch den Staat - raga, dosa und moha im König selbst sind es, die ihn daran hindern, seiner Königspflicht nachzukommen.

Eine Passage im Anguttara Nikaya beschreibt dieses Phänomen einfach und direkt. Wenn sich der König gerecht verhält, werden seine Minister gerecht sein, das Land wird gerecht sein und die Welt wird sich als Freund, nicht als Feind zeigen. Das Gegenteil ist natürlich auch wahr und steht im Sutta an erster Stelle: "In diesen Zeiten, Mönche, wenn sich Regierende ungerecht verhalten (adhammika), werden sich auch ihre Minister ungerecht verhalten, Brahmanen und einfache Menschen werden sich ebenso ungerecht verhalten..."

Die oben zitierten Passagen zeigen uns auf, dass es einer Wandlung des Herzens bedarf, wenn Gewalt aufkommt, aber diese Wandlung muss in denjenigen vorgehen, die in der Gesellschaft die Macht innehaben. Wenn der Staat korrupt ist, wird die Bevölkerung zum Opfer des Staates und zum Opfer ihres eigenen Überlebenswillens und dann werden sie sich zu Taten hinreissen lassen, die ihnen nicht mal in Gedanken kommen würden, wenn sie nicht in dieser Notsituation wären. Es besteht also ein Konsens dahingehend, dass es neben denjenigen, die Unrecht tun auch eine Gruppe von Leuten gibt, denen Unrecht getan wird und deren Taten wiederum durch das ursprüngliche Unrecht bedingt sind.

(Uebersetzt aus dem Englischen von Dr. Annette Rehrl)

Anm.

47 Sutta Nipata, vv 935-38 (Uebersetz. von H. Saddhatissa)
48 Digha Nikaya 5/i, 135
49 Digha Nikaya 26/iii, 85
50 Digha Nikaya iii, 73



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