Ostermarsch 2002 in Frankfurt
wer sind wir, die wir uns hier zu den Ostermärschen 2002 getroffen haben? Weil wir dagegen protestieren, dass deutsche Soldaten in diesem Krieg mitschießen, heißt es, es fehle uns an Verantwortungsbewusstsein. Außerdem seine wir unsolidarisch, weil wir unserer westlichen Führungsmacht die schuldige Solidarität verweigern wollten. Verantwortungslos und unsolidarisch, gibt es noch etwas Schlimmeres?
Jawohl, sage ich, es gibt noch etwas Schlimmeres! Nämlich sich auf diese moralischen Wertbegriffe zu berufen, aber das Gegenteil davon zu tun. Solidarität und Verantwortung bedeuten für uns in der Friedensbewegung wichtige Verpflichtungen, aber in unverfälschtem Sinn. Und darüber lassen Sie mich einige Worte sagen.
Solidarität heißt Zusammenhalt, heißt Verhinderung oder Aufhebung von Ausgrenzungen. Heißt Unterstützung der Schwächeren. Heißt Abbau von sozialen Ungerechtigkeiten. Solidarität war das Leitthema der Friedenspolitik Willy Brandts und seines Engagements für die armen Länder in der Nord-Süd-Kommission. Lernziel Solidarität hieß ein vielfach raubgedrucktes Buch von mir, vor 30 Jahren, das beschrieb das Engagement einer sozialen Bewegung der jungen Generation, die sich für Menschen in sozialen Brennpunkten, für Flüchtlinge, psychisch Kranke und für die Völker in der Dritten Welt einsetzte.
Das ist der wahre, der umfassende Sinn
von Solidarität, der für uns in der Friedensbewegung obenan steht.
Aber was uns im Augenblick als Solidarität zur Pflicht erklärt
wird, verkehrt den ursprünglichen Wortsinn ins Gegenteil. Wir sollen
wieder schon vor Jahrzehnten auf ein gespaltenes Weltbild eingeschworen
werden, also nicht etwa nur mithelfen, die Schuldigen an dem Massenverbrechen
des 11. September zu verfolgen und zu bestrafen. Sondern wir sollen willfährig
in einer Front gegen das Böse mit marschieren, wo immer unsere Führungsmacht
dieses ermittelt. Das Rezept lautet, überall in der Welt lauernde
gefährliche Bedrohungen mit
Gewalt zu ersticken. Aber was sind das
für Regionen? Woher droht neuer Terrorismus?
Außenminister Powell hat dazu persönlich
auf dem kürzlichen Wirtschaftsforum in New York einen maßgeblichen
Hinweis gegeben, als er sagte: Armut und Hoffnungslosigkeit seien dem Terrorismus
förderlich. Das heißt doch nichts anderes, als dass den entsprechenden
kritischen Regionen zuerst Hilfe gegen ihre Armut und Hoffnungslosigkeit
gebühre.
Im Irak, dem anvisierten nächsten Kriegsgegner, sterben laut UNESCO und Weltgesundheitsorganisation in jedem Monat 4 - 5000 Kinder an den Folgen der Sanktionen, was dem Diktator Saddam Hussein dabei hilft, mit Hasspropaganda sein Regime zu stabilisieren. In Nahost war der Terrorkrieg drei Jahre lang fast erloschen, als die Palästinenser aufgrund der Osloer Vereinbarungen auf Rückgabe der besetzten Gebiete und auf baldige Anerkennung als selbständiger Staat hoffen konnten.
Jedenfalls sollten wir uns unseren Leitbegriff Solidarität ebenso wenig stehlen lassen wie unsere Interpretation von Verantwortung. Wenige Meter von hier entfernt in der Paulskirche hat der Philosoph Hans Jonas den Friedenspreis für seine bedeutenden Schriften über Verantwortung in der modernen Welt erhalten. Verantwortung, so sagte Jonas wörtlich, "ist die als Pflicht anerkannte Sorge um anderes Sein, die bei der Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur Besorgnis wird."
Aber wo bleibt die Sorge um anderes Sein, wenn die USA und die anderen westlichen Mächte die armen Länder in Schulden von 2.500 Milliarden Dollar ersticken lassen? Wenn sie ihnen durch Zollbarrieren und Subventionen verwehren, gleichberechtigt an den Vorteilen der Globalisierung zu partizipieren? Wo bleibt die Verantwortung dafür den Abwärtstrend der Entwicklungshilfe umzukehren, den selbst der Chef der Weltbank ein Verbrechen nennt? Wo bleibt die Verantwortung, wenn die USA ihren Militäretat in den nächsten Jahren um 120 Milliarden bis auf 451 Milliarden Dollar aufstocken wollen, aber zum Beispiel nur ganze 300 Millionen für die Aids-Bekämpfung in Afrika übrig haben, wo Kofi Annan jährlich 10 Milliarden fordert, um das dortige unvorstellbare Massensterben einzudämmen?
Hier überall geht es um Verantwortung,
bzw. um Beseitigung schwerwiegender Unverantwortlichkeit. In Deutschland
bekommen wir nun seit der Wiedervereinigung fast pausenlos zu hören,
erweiterte deutsche Verantwortung sei vor allem die Pflicht zum Mitschießen
in Kriegen. Die Deutschen wieder mit vornan an allen
Fronten, das wird als Reifung zu neuer
Erwachsenheit gepriesen und ist doch in Wahrheit nur ein Rückfall
auf eine pubertäre High-Noon-Mentalität, in welcher das Erschlagen
von immer neuen Monstern als heroischer
Beweis von männlicher Vollwertigkeit
erträumt wird.
Aber, liebe Freundinnen und Freunde, deutsche Verantwortung sieht anders aus als gehorsame Unterwerfung unter eine neue Strategie, die mit Krieg immer nur neuen Hass, neue Rache, neue Gegengewalt sät, so wie uns das im Nahost täglich vorgeführt wird.
Wer einmal in den Worten nachgibt, kapituliert
schließlich auch in der Sache, das habe ich von meinem Lehrmeister
Sigmund Freund gelernt. Das heißt, wir dürfen uns unser Verständnis
von Solidarität und Verantwortung nicht enteignen lassen. Den echten
Sinn von Solidarität verwendet mit Recht die neue globalisierungskritische
Bewegung, die im Sinne einer gerechteren Weltordnung eine globalisierte
Solidarität anstrebt. In dieser Bewegung treffen sich bereits in über
60 Ländern Gruppen mit einem Verantwortungsgefühl, das der Computerwissenschaftler
Joseph Weizenbaum einmal benannt hat, als er schrieb, dass jeder von uns
sich nur dann als ganze Person und nicht
bloß als Figur in einem Drama ansehen könne, das anonyme Mächte
geschrieben habe, wenn er so handle, als
hänge die Zukunft des Ganzen von ihm ab. Das klingt phantastisch und
idealistisch, beschreibt aber für die Menschen in der Friedensbewegung
und in der neuen Bewegung attac schlicht ein unmittelbares Bewusstsein
davon, dass wir alle auf der Welt aufeinander angewiesen sind.
Als Präsident Bush gerade seine Gedenkrede zur halbjährigen Erinnerung an den 11. September hielt und gerade beendete, intonierte zum Abschluß des Musikcorps der Marine Beethovens Ode: "Alle Menschen werden Brüder." So behielt die hoffnungsvolle Utopie das letzte Wort. Und warum sollte man darin keinen Sinn sehen?
Liebe Freundinnen und Freunde, mich belastet
immer noch, dass ich mit 18, 19 Jahren einmal in einem Krieg in Rußland
auf Feinde schießen musste, die nicht meine Feinde waren und mit
denen ich bestimmt gut ausgekommen wäre, hätten wir uns unter
normalen Verhältnissen getroffen. In Afghanistan haben die Bomberpiloten
das Leben Tausender von unschuldigen Zivilisten ausgelöscht. Wie jüngst
zu lesen war, haben französische Kampfflieger unlängst verschiedentlich
Einsätze aus humanitären Einsätzen verweigert, um die
sonst gefährdete Zivilbevölkerung
zu schonen. Längst hat der Krieg die Schuldigen am 11. September aus
den
Augen verloren. Wenn sich Soldaten zu
Tötungswerkzeugen in einem Szenario erniedrigt fühlen, das sie
zur Unterdrückung ihres Verantwortungssinnes nötigt, dann macht
sie die Politik auch an ihnen schuldig. Sie nötigt sie zu einer psychischen
Verrohung, die lange nachwirkende traumatische Spuren hinterläßt.
In diesem Augenblick, da neue Feindländer
als Ziel für Bomben und Raketenangriffe ausgeguckt werden, ist noch
einmal eine Chance da, das Zerstörungswerk zu stoppen. Es ist gewiss
nicht schwierig, dem Wählervolk klarzumachen, dass eine Ausweitung
des Krieges den Terror nicht ausrotten, sondern ihm nur neue Nahrung geben
würde. In Israel/Palästina läuft täglich in kleinerem
Maßstab ab, was uns im Großen bevorstehen würde, keine
noch so gewaltige militärische Überlegenheit schützt vor
selbstmörderischer Rachebereitschaft. Das einzusehen ist nicht schwer.
Schwerer scheint aber wohl, den Mut aufzubringen, eine erweiterte deutsche
Verantwortung im europäischen Bündnis
endlich nicht mehr militärisch, sondern friedenspolitisch sichtbar
zu machen. Das ist unsere Forderung. Beweist endlich in Berlin diesen Mut,
ehe es definitiv zu spät ist.
zugesandt von:
MultimediaWerkstatt Peter
Ruthardt
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Terror