Süddeutsche Zeitung, 10. April 2002

Macht der Waffen, Ohnmacht der Werte

Ein Brief von US-Bürgern "An unsere Freunde in Europa"



Mitte März hatten 58 prominente amerikanische Intellektuelle, unter ihnen Francis Fukuyama, Samuel Huntington und Michael Walzer, in einem offenen Brief zur Unterstützung des "gerechten Krieges" Amerikas gegen den Terrorismus aufgefordert. Während das Manifest in Europa lebhafte Diskussionen auslöste, blieb die inneramerikanische Reaktion bemerkenswert blass - als ob der "gerechte Krieg" zur ethischen Selbstverständlichkeit geworden wäre. Jetzt aber meldet sich eine grosse Gruppe weiterer amerikanischer Intellektueller, unter ihnen der Schriftsteller Gore Vidal, der Historiker Howard Zinn, der Physiker Alan Sokal, der Katholische Bischof Thomas Gumbleton und die Ökonomen Edward Herman, Michael Perelman und Dean Baker, in einem offenen Gegenbrief zu Wort. Der Brief, gerichtet an "unsere Freunde in Europa" und insgesamt von 130 Unterzeichnern mitgetragen, geht mit dem Antiterrorkampf der amerikanischen Regierung hart ins Gericht. Wir dokumentieren den Wortlaut der Erklärung, leicht gekuerzt.

Nach den Selbstmordanschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 erklärte Präsident George W. Bush einen zeitlich unbegrenzten "Krieg gegen den Terrorismus". Dieser Krieg kennt keine klaren Grenzen, weder räumlich noch zeitlich noch was das Ausmaß an Zerstoerung betrifft. Derzeit kann niemand vorhersagen, welches weitere Land in den Verdacht geraten kann, "Terroristen" zu beherbergen oder zur "Achse
des Bösen" zu zaehlen. Die Ausrottung des "Bösen" koennte viel länger dauern, als die Welt den dabei eingesetzten Zerstörungskräften widerstehen kann. Schon jetzt setzt das Pentagon aus seinem immer perfekteren Arsenal des Schreckens Bomben ein, deren Auswirkungen Erdbeben gleichen, und zieht offiziell den Einsatz von Nuklearwaffen in Betracht.

Die absehbare materielle Zerstörung geht ins Unermessliche. Dasselbe gilt fuer die menschlichen Verluste, nicht nur an Leben, sondern auch im Hinblick auf die Verzweiflung und den Hass von Millionen Menschen, die hilflos zusehen muessen, wie ihre Welt von den Vereinigten Staaten verwüstet wird, einem Land, das seine moralische Autorität fuer ebenso absolut und unanfechtbar hält wie seine militärische Macht.

Als Bürger der Vereinigten Staaten tragen wir eine besondere Verantwortung, uns dem Wahnsinn dieser kriegerischen Entwicklung zu widersetzen. Eine besondere Verantwortung fällt aber auch Ihnen als Europäer zu. Denn die meisten europäischen Staaten sind im Rahmen der Nato mit den USA militärisch verbündet. Die Vereinigten Staaten behaupten, der Krieg diene der Selbstverteidigung, aber zugleich auch, er werde zum Schutz der "Interessen ihrer Verbündeten und Freunde" geführt. Ihre Länder werden zwangsläufig in die militärischen Abenteuer der USA hineingezogen werden. Auch Ihre
Zukunft ist in Gefahr!

Viele informierte Menschen innerhalb wie ausserhalb der europäischen Regierungen sind sich des gefährlichen Irrsinns der von der Bush-Administration eingeschlagenen Kriegspolitik bewusst. Aber nur wenige haben den Mut, dies auch ehrlich auszusprechen. Sie lassen sich von den möglichen Vergeltungsmaßnahmen gegen "Freunde" und "Verbündete" einschüchtern, die ihre bedingungslose Unterstützung aufkündigen. Außerdem haben sie Angst davor, als "antiamerikanisch" zu gelten, letzteres eine Bezeichnung, mit der absurderweise auch US-Amerikaner gebrandmarkt werden, die die Kriegspolitik kritisieren und deren Protest durch den Chauvinismus unterdrückt wird, der einen Großteil der US-Medien beherrscht. Rationale und offen vorgetragene europäische Kritik an der Politik der Bush-Administration könnte dazu beitragen, den gegen den Krieg eingestellten Amerikanern im eigenen Land Gehör zu verschaffen.

Der größte Trugschluss der Apologeten der US-Kriegspolitik ist die Gleichsetzung der "amerikanischen Werte", so wie sie in unserem Land verstanden werden, mit der Ausübung von wirtschaftlicher und vor allem militärischer Macht der USA im Ausland.

Selbstverherrlichung ist ein berüchtigtes Wesensmerkmal der US-amerikanischen Kultur, das in einer Einwanderungsgesellschaft eine nützliche Rolle bei der Assimilierung neuer Bürger spielen mag. Aber leider hat der 11. September hier zu beispiellosen Extremen geführt. Das hat zur Folge, dass die unter US-Bürgern weit verbreitete Illusion verstärkt wird, die ganze Welt orientiere sich voll Bewunderung oder Neid an den Vereinigten Staaten, so wie diese sich selbst sehen: als wohlhabend, demokratisch, großzügig, gastfreundlich und offen für alle Rassen und Religionen, als Inbegriff universeller menschlicher Werte und letzte und beste Hoffnung der Menschheit.

In diesem ideologischen Kontext gibt es auf die nach dem 11. September gestellte Frage: "Warum hassen sie uns?" nur eine Antwort: "Weil wir so großartig sind!" Oder entsprechend der allgemein verbreiteten Behauptung: Sie hassen uns wegen "unserer Werte".  Die meisten US-Bürger haben keine Ahnung, dass die Außenpolitik der USA nichts mit den bei uns so gefeierten "Werten" zu tun hat, sondern im Gegenteil oftmals dazu dient, Menschen in anderen Ländern die Möglichkeit vorzuenthalten, diese "Werte" ebenfalls zu genießen.

Die Machtpolitik der USA hat in Lateinamerika, Afrika und Asien dazu gedient, die Überbleibsel der Kolonialherrschaft und verhasste Diktatoren an der Macht zu halten, für die Wirtschaft dieser Länder verheerende wirtschaftliche und finanzielle Bedingungen aufzuzwingen, repressive Militärkräfte zu unterstützen, unabhängige Regierungen zu stürzen oder durch Sanktionen in den Würgegriff zu nehmen, und als letztes Mittel Bomben und Raketen gegen sie loszuschicken, die Tod und Verderben auf sie herabregnen lassen.

Die Vereinigten Staaten fühlen sich seit dem 11. September einem Angriff ausgesetzt. Daraus schließt die Regierung auf ein "Recht auf Selbstverteidigung" und meint nun, ohne Schuldnachweis oder rechtliche Prozedur Krieg nach ihren Bedingungen und eigener Wahl gegen jedes Land führen zu können, das sie als Feind bezeichnen.

Dieses "Recht auf Selbstverteidigung" galt natürlich nie für Laender wie Vietnam, Laos, Kambodscha, Libyen oder Sudan, wenn diese von den USA bombardiert wurden. Dies ist eben das Recht des Stärksten, das Gesetz des Dschungels. Die Ausübung eines "Rechts", das anderen verwehrt wird, kann niemals "universellen Werten" dienen, sondern untergräbt in Wirklichkeit den Begriff einer Weltordnung, die auf universellen Rechten beruht und allen gleichermaßen den Anspruch auf
rechtliche Mittel zugesteht.

Die Vereinigten Staaten haben, angeblich zur "Selbstverteidigung", einen Krieg gegen Afghanistan begonnen. Das war keine spezifische Reaktion auf die beispiellosen Ereignisse vom 11. September. Im Gegenteil, es war genau das, was die USA, wie Dokumente aus dem Pentagon belegen, schon vorher in Gang gesetzt und geplant hatten: die Bombardierung anderer Länder und der Einsatz von Militärkräften auf fremdem Boden zum Sturz der jeweiligen Regierungen.

Die Vereinigten Staaten planen offen einen Krieg gegen den Irak, ein Land, das sie seit über zehn Jahren mit dem erklärten Ziel bombardiert haben, die dortige Regierung durch von Washington ausgewählte Führer zu ersetzen.

Was verteidigt wird, hat etwas mit dem zu tun, was angegriffen wurde. "Verteidigung" bedeutet normalerweise die Verteidigung des nationalen Territoriums. Und tatsächlich fand am 11. September ein Angriff auf und gegen US-Territorium statt. Es war kein konventioneller Angriff seitens eines mächtigen Staats, um Land zu erobern, sondern ein anonymer Anschlag auf bestimmte, zur Zielscheibe erkorene Institutionen und Personen. Da sich niemand zu den Anschlaegen bekannt hat, sollte der Symbolcharakter der Ziele vermutlich für sich selbst sprechen. Das World Trade Center symbolisiert die globale wirtschaftliche, das Pentagon die militärische Macht der USA.

Demnach ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Anschläge vom 11. September sich symbolisch gegen "amerikanische Werte" gerichtet haben, wie sie in den Vereinigten Staaten gefeiert werden.

Statt dessen scheint die wirtschaftliche und militärische Macht der USA, so wie sie sich im Ausland darstellt, das wahre Ziel der Anschläge gewesen zu sein. Berichten zufolge waren 15 der 19 identifizierten Flugzeugentführer Saudi-Araber, die der Präsenz von US-Militärbasen auf saudischem Boden feindlich gegenüber stehen. Die Ereignisse des 11. September legen den Schluss nahe, dass die Nation, die andere Laender so stark ihre Macht spueren läßt, selbst im Inneren verwundbar ist. Aber die wirkliche Frage ist die der US-Interventionen in andere Länder. Tatsächlich verfolgen die Kriege Bushs offenkundig die Absicht, die US-Macht im Ausland zu behaupten und zu stärken. In diesen Kriegen wird die weltweite Projektion der
Macht der USA verteidigt, nicht die Freiheit der Amerikaner oder ihr Lebensstil.

In Wirklichkeit schwächen Kriege im Ausland die von den US-Bürgern geschätzten Werte, statt sie zu verteidigen oder gar auszubreiten. Der Hauptunterschied zwischen den imperialen Kriegen der Vergangenheit und dem globalen Machtstreben der Vereinigten Staaten heute liegt in der um ein Vielfaches größeren Zerstörungskraft, die nun zur Verfuegung steht. Das Missverhältnis zwischen der materiellen Zerstörungskraft und der konstruktiven Kraft menschlicher Weisheit war noch nie so groß und gefährlich. Die Intellektuellen können wählen, ob sie sich dem Chor jener anschließen möchten, die die brutale Anwendung von Macht verherrlichen, indem sie ihr "geistige Werte" bescheinigen, oder ob sie die schwierige und wichtigere
Aufgabe übernommen wollen, die arrogante Torheit der Mächtigen zu entlarven und mit der gesamten Menschheit zusammenzuwirken, um Wege zu einem vernünftigen Dialog, fairen wirtschaftlichen Beziehungen und Gerechtigkeit für alle zu finden.

Das Recht auf Selbstverteidigung muss ein kollektives Menschenrecht sein. Die Menschheit als Ganzes hat das Recht, ihr eigenes Überleben gegen die "Selbstverteidigung" einer keinen Beschränkungen unterworfenen Supermacht zu verteidigen. Seit einem halben Jahrhundert haben die Vereinigten Staaten wiederholt ihre Gleichgültigkeit gegenüber Tod und Zerstörung demonstriert, die ihre eigenmächtigen Bemühungen zur Weltverbesserung stets begleitet haben. In unseren reichen Ländern können wir nur durch Solidarität mit den Opfern der Militärmacht der USA jene universellen Werte verteidigen, von denen wir behaupten, dass sie uns so lieb und teuer sind.



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