Predigt im Ökumenischen Gottesdienst aus Anlass der Terroranschläge in den USA in der Johanneskirche in Düsseldorf

Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann

14. September 2001
Predigttext: Ps 121


Auch nach Tagen sind wir angesichts der Terroranschläge in New York und Washington immer noch sprachlos. Tausende von Toten und vermutlich eben noch Lebende, darunter gewiss sehr viele Verletzte, liegen unter den Trümmern, deren Beseitigung die Helfer schwer gefährdet. Die Bilder, die tagelang um die ganze Welt liefen, gehen uns nicht aus dem Kopf und beschäftigen viele Menschen noch im Schlaf: Die Flugzeuge, die wie Pfeile in die Türme hineinrasen, die verzweifelten Menschen in den halbzerstörten Türmen, die aus großer Höhe fallenden Menschenleiber, die einstürzenden Hochhäuser. Mindestens genauso erschreckt uns die Frage, was in Menschen vor sich geht, die solches planen und ausführen. In welche Abgründe menschlichen Denkens und Handelns muss man hineinblicken! Wie kann man sich vor solchen irrsinnigen Untaten schützen, ohne die Freiheit der Menschen unerträglich einzuengen und aus der Welt ein Gefängnis zu machen?

Da ist es nicht weit bis zur Frage des Psalmisten zu Beginn von Ps 121: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?“ Die Berge sind die Gegend, von der Gefahr und Unsicherheit ausgehen. Wir können auch an die Hochhäuser denken, die nun in Schutt und Asche liegen. Es gibt viel Hilfe und große Solidarität. Aber alle technischen Maßnahmen, die vielleicht noch einige Menschen retten können, und alle politisch-ökonomischen Überlegungen, welches nun die Folgen sind und vor allem, wie es weitergeht, können allein die tiefe Erschrockenheit und radikale Unsicherheit nicht überwinden, die die Menschen in aller Welt ergriffen haben. Es bleibt bei der bangen Frage: Woher kommt mir Hilfe?

Die Antwort folgt auf dem Fuß. Sie ist verblüffend einfach und entsetzt uns vielleicht sogar: „Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“ (V. 2) Ist das nicht eine typisch religiöse Antwort, die die Not und das Leid leichtfertig überspringt, und am Ende auch nicht hilfreich ist? Wo ist er denn geblieben, dieser Schöpfer des Himmels und der Erde, als die Wahnsinnigen in die Türme hineinrasten? Ist dies nicht die uralte Frage, die wir immer wieder in individuellen Unglücksfällen und kollektiven Katastrophen stellen: Wo bist du, lieber Gott, in Auschwitz, in New York und Washington gewesen?

Die Antwort ergeht in einem Psalm, der wohl etwas mit der Wallfahrt, besser noch mit dem Weg des Menschen durch die Geschichte, dem „homo viator“, zu tun hat, mit den Menschen auf den staubigen, unsicheren und manchmal auch tödlichen Straßen unseres Lebens. Sie weiß um die tiefe Ungewissheit, Verletzlichkeit und Brutalität des menschlichen Lebens. Gerade weil der alttestamentliche Beter diese Unbeständigkeiten unseres Lebens kennt und ihnen offen in die Augen sieht, ist die Antwort des Glaubens wie im Feuer erlittener Geschichte gereinigt und geläutert: „Meine Hilfe kommt vom Herrn.“

Es ist wirklich eine Antwort des Glaubens. Es ist nicht eine bloße Auskunft. Es braucht einen Sprung des Vertrauens, um so etwas sagen zu können. Da ist einer, der den Fuß nicht straucheln lässt und immer Hilfe gewähren kann, einer der nicht schläft. Er wacht immer über den Menschen, auch wenn wir glauben, er schlummere. Dies wird in dem relativ kurzen Psalm mit acht Versen sechsmal mit dem Wort hüten/behüten umschrieben: „Der Herr ist dein Hüter...“ (V. 5). Hinter diesem Wort steht natürlich auch der ganze Zusammenhang mit dem Bildwort vom Hirten. Rasch stellen sich viele Erinnerungen an andere Psalmen ein, ganz besonders Ps 23: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen... Er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bis bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“ (V. 1.3f.) Dies ist auch die Kernaussage unseres Psalms 121. Es ist die einzige Hilfe, die uns ganz gewiss gewährt wird: das Bekenntnis eines unerschütterlichen Vertrauens in die helfende Gegenwart Gottes, gerade wenn wir Menschen keine Antwort mehr finden. Er steht uns immer zur Seite. „Bei Tag wird dir die Sonne nicht schaden noch der Mond in der Nacht.“ (V. 6) Unser Leben ist so in Gottes Hand. Die Ausweglosigkeit in solchen ungeahnten Katastrophen bringt vollends an den Tag, was aber auch für unser alltägliches Leben gilt.

Dies ist nicht das Wort eines fernen und unzugänglichen Gottes. Er wendet sich uns zu und hat in Jesus von Nazareth Wohnung genommen in unserer zerrissenen und beschädigten Welt. Dabei hat er nicht nur einen Verkleidungskünstler gespielt, gleichsam das Welttheater Gottes vorgeführt, sondern er hat blutigen Ernst gemacht mit seinem Kommen. Er hat, obwohl gerecht und ohne Makel der Sünde, das größte Unrecht erlitten. Wenn wir auf den Gekreuzigten sehen, kommt uns immer wieder die Frage: Warum? Und hinter diesem Kreuz stehen mit derselben Frage die vielen unzähligen Kreuze der Weltgeschichte – bis hin zu den Toten der unsinnigen Anschläge in New York und Washington. Nur gemeinsam mit dem Gekreuzigten in der Hand kann man es wagen, in diese Hölle der Zerstörung und des Hasses hineinzusehen. Aber der Blick auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn gibt auch die Kraft, nicht im Hass und in der Gegengewalt zu verharren, sondern unablässig sich für den Frieden einzusetzen. Die Torheit des Kreuzes hat am Ende den längeren Atem.

Darum mündet der Psalm auch in einen Segenswunsch: „Der Herr behüte dich vor allem Bösen, er behüte dein Leben. Der Herr behüte dich, wenn du fortgehst und wiederkommst, von nun an bis in Ewigkeit.“ (V. 7f.) Damit sind das Kommen und Gehen, die Wege des Menschen gemeint. Was für Wege! Wir wollten beten, dass wir sie immer gehen können. Amen.



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